Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Wittgenstein. Ein Gleichgewicht. Ein stabiler Zustand. Die Ordnung der uralten Metropole hängt davon ab, wie sehr manchen Parteien daran gelegen ist, eben diese Ordnung zu zerstören. Lucifer ist sozusagen ein Teil von jener alten Kraft, die stets das Böse will und doch das Gute schafft.« Grinsend fügte er hinzu: »Wahrlich ein Geist, der stets verneint, denn alles, was entsteht, ist in seinen Augen wert, dass es zugrunde geht.«
»In diesem Bestreben hindert er jedoch den Nyx daran, die Oberhand zu gewinnen.«
»Besser hätte auch ich es nicht ausdrücken können, Master Micklewhite.«
Die beiden hielten sich sozusagen gegenseitig in Schach, dachte Emily.
Das Problem, das sich aus dieser Situation ergab, lag auf der Hand. »Seit einem Jahr nun ist Lycidas seiner Macht beraubt.«
»Ihr sagt es.«
»Was bedeutet, dass der Nyx auf dem Vormarsch ist.«
»Auch darin muss ich Euch Recht geben. Der Nyx steigt aus seiner tiefen Welt empor und hat bereits die inneren Kreise der Hölle okkupiert. Was nebenbei bemerkt gar nicht gut ist. Ihr selbst habt vor einem Jahr Bekanntschaft mit den Limbuskindern machen dürfen. Behagt Euch der Gedanke, dass der Nyx die Herrschaft über diese Brut erlangt?«
Keine sehr angenehme Vorstellung.
Darin waren wir uns wohl alle einig.
»Die in der Hölle Lebenden sind einfachen Gemüts. Sie folgen demjenigen, der ihre niedrigen Bedrüfnisse befriedigt. Nekir, Limbuskinder und anderes Gewürm.«
Wie bereits erwähnt … keine angenehme Vorstellung.
Blieb die Frage: »Was können wir dagegen tun, wenn sogar ein Gott machtlos ist?«
»Ich bin der Herrscher des Totenreichs«, verteidigte sich der Lordkanzler. »Und in der Hölle befinden sich keine Toten. Ein Trugschluss, der menschlichen Mythologien und Religionen zuzuschreiben ist. Über die Höllenkreise besitze ich keine Macht. Die Hölle ist Lucifers Reich.«
Maurice Micklewhite resümierte: »Da wir mithilfe der Urieliten Lycidas aus dem Verkehr gezogen haben, stehen dem Nyx sozusagen Tür und Tor offen. Ihr schlagt nun vor, Lycidas zu befreien, damit das Gleichgewicht der Kräfte in London wiederhergestellt werden kann.«
Der Lordkanzler nickte.
»Warum gerade wir?«, fragte ich.
»Wegen der Kinder«, gab Anubis zur Antwort.
Erschrocken sahen die beiden Mädchen einander an.
»Die Kinder sollen Lycidas befreien?«
»Nein, es gibt nur eine Person, die Lycidas die Freiheit schenken kann.«
»Die wäre?«
»Mylady Lilith.«
Aurora entfuhr ein furchtsames: »Madame Snowhitepink?«
Der Lordkanzler verbesserte sie: »Die Lichtlady.«
Die Richtung, die das Gespräch nahm, gefiel Emily ganz und gar nicht. Was immer der Lordkanzler im Sinn hatte, sie sträubte sich dagegen, Kontakt mit der einstigen Madame Snowhitepink aufzunehmen.
»Auch hier sollte ich vielleicht am Anfang beginnen«, schlug Anubis vor. »Es ist die Magie der Engel, die Lycidas dort oben in der Laterne von St. Paul’s bindet. Ein Band, das nur von der Liebe Kraft gebrochen werden kann.«
Emily wirkte erstaunt.
Aurora nicht minder.
Maurice Micklewhite hingegen blickte eher skeptisch drein.
»Der Liebe Zaubermacht?«, fragte ich, nicht ohne Spott.
Der Lordkanzler warf mir einen missbilligenden Blick zu. »Der gleiche Fehler unterlief Lord Uriel«, schalt er mich höflichst einen Narren. »Geschöpfe wie Lucifer und Lilith sind nicht dazu fähig, Gefühle dieser Art zu entwickeln. Denkt Ihr … und dachten die Engel. Deswegen banden sie Lycidas mit jener Fessel. Denn ihn zu befreien bedeutet für den Befreier ein tragisches Los. Wer immer ihn befreit, muss wahre Liebe für ihn empfinden und, das ist der tragische Teil der Geschichte, den Platz in der Laterne an seiner statt einnehmen. Sollten Lycidas und Lilith also doch Liebende sein, was die Engel zwar nicht glaubten, aber dennoch in Betracht zogen, so wird ihre Liebe keine Erfüllung finden. Niemals werden sie gemeinsam die Freiheit genießen können. Einer der beiden wird immer im Licht der Laterne gefangen sein, während der andere um seines Gefährten Schicksal weiß und nichts dagegen ausrichten kann.«
Niemals hätte Emily gedacht, dass Engel so grausam sein könnten.
Ihr Blick veriet eindeutig Mitleid.
Mit dem Lichtlord und seiner Lichtlady.
Niemand, fand sie, hatte ein solches Schicksal verdient.
»Kurz gesagt«, brachte es der Lordkanzler auf den Punkt, »sind wir auf die Hilfe der Lichtlady angewiesen. Nur sie vermag es, Lycidas zu befreien.«
»Wo kommen wir ins Spiel?«, wollte
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