Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Rotherhithe gefürchtet hatte wie den Tod persönlich. Für manche, hatte Emily mit Grausen gedacht, war sie auch genau das gewesen. Für viele der Kinder, die mit ihr gegangen waren, war es der letzte Gang ihres beklagenswerten Lebens gewesen. Niemals wieder waren sie gesehen worden, und man hatte sich in den Mauern des Waisenhauses die schlimmsten Geschichten erzählt. Insbesondere die älteren Kinder wussten von Dingen zu berichten, die Erwachsene einem Kind antun konnten, die Emily damals noch nicht gänzlich verstand, die sie aber nichtsdestotrotz zu Tode geängstigt hatten. Es waren die Gesichter jener Kinder gewesen, die davon erzählt hatten, die flüsternden Stimmen, geheimnisvoll und ängstlich zugleich. All dies hatte ihr unmissverständlich klar gemacht, dass es etwas abgrundtief Schlechtes war, das denjenigen Kindern widerfuhr, die das Pech hatten, von der weiß geschminkten Frau mit der blonden Mähne ausgewählt zu werden.
Aurora war gestern Nacht ganz bleich geworden.
Im Bett hatte sie geweint.
Nein, das war nicht ganz richtig. Geschluchzt hatte sie und gezittert. Und Emily hatte sich an ihre erste Begegnung in der Toilette erinnert, nachdem Aurora von einem Ausflug mit Madame Snowhitepink zurückgekehrt war. Ein Blick in die dunklen Augen hatte Emily augenblicklich gesagt, dass das andere Mädchen innerlich schrie wie am Spieß, dass etwas in ihm zerbrochen war, etwas, das man hätte bewahren und das niemals hätte verloren gehen sollen. Sie hatte etwas von einem großen Haus gestammelt, von einem Raum voller Spielsachen und Puppen mit vielen Kleidern.
Niemals hatte Aurora Genaueres erzählt.
»Ich kann mich nicht mehr daran erinnern«, hatte sie gelogen.
Emily hatte es dabei bewenden lassen.
Was hätte sie auch anderes tun können? Aurora wusste, dass ihre Freundin die Lüge erkannt hatte und gar nicht erst von ihr verlangte, die Wahrheit zu sagen, weil die Wahrheit dieser Nacht in der Lüge offenbart worden war. Tief in ihrem kindlichen Herz hatte Emily verstanden, welche Schatten diese Lüge notwendig gemacht hatten. Mit jedem gelogenen Wort war die Wahrheit genauer umrissen worden, und mit jedem Jahr ihrer Freundschaft hatte Emily besser verstanden, was ihrer Freundin angetan worden war. Der Reverend hatte all dies zugelassen.
Noch heute schwindelte Emily, wenn sie an das Waisenhaus zurückdachte.
Und doch wollte sie dorthin zurückkehren.
Nicht alleine, das sei hier angemerkt.
Nein, Little Neil Trent sollte ihr Gesellschaft leisten.
Nicht dass der Junge davon gewusst hätte.
Als Emily Laing den Raritätenladen betreten hatte, war es für den Jungen, der im Laden arbeitete, nur ein weiterer Besuch der stillen Emily mit dem Mondsteinauge gewesen, die so gerne zum Lesen dorthin kam und in alte Bücher versunken in dem Ohrensessel kauerte, wo sie auch jetzt wieder saß, und stundenlang Gespräche mit ihm führte, wenn keine Kundschaft im Laden herumlungerte und sie beide mit Fragen löcherte. Im letzten Jahr war Emily Laing mehrmals in der Woche im Raritätenladen aufgetaucht, und Neil hatte die Gesellschaft des Mädchens zu schätzen gelernt. Sie war wie gesagt still und nachdenklich und besaß einen seltsamen Humor, der seine Wurzeln, wie Neil vermutete, im Umgang des Mädchens mit ihrem Mentor hatte.
Einmal hatte ein Gast Emily auf deren leicht mürrische und abweisende Art angesprochen.
»Kann es sein, junge Dame, dass Sie Nihilistin sind?«
Emily, die Neil beim Büchersortieren geholfen hatte, schaute kurz auf und sagte ernst: »Nein!«
Emily Laing, das wusste Neil Trent, besaß Sinn für Humor.
Hätte Emily den Taubenmann am Trafalgar Square getroffen, wäre ihr die Bedeutung dieser Eigenschaft bewusst geworden. »Das Leben«, hatte dieser mehrmals zu Aurora und Maurice Micklewhite gesagt, »ist zu ernst, um es ohne ein Lächeln ertragen zu können.«
Wie dem auch sei, Emily hatte sich in der Nacht Gedanken gemacht.
Über Madame Snowhitepink, die geschminkte Nemesis aller Waisenkinder. Darüber, dass allem Anschein nach nur sie dazu in der Lage war, den Lichtlord zu befreien. Der Liebe Zaubermacht, hatte ihr Mentor zynisch angemerkt. Konnte es sein, dass jene Frau, deren Gesicht zu einer lächelnden Maske erstarrt war, wahre Liebe empfand? War es möglich, dass sie den Lichtlord liebte und ihn aus seinem Gefängnis befreien konnte … und auch würde? Emily erinnerte sich der Nacht, als alles begonnen hatte, als sie mit Auroras Hilfe in die Kammer des Reverends eingedrungen
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