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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Gesicht, das uns am Tisch Gesellschaft leistete.
    Maurice Micklewhite war wirklich schon viel herumgekommen in der Welt.
    Auch der Lordkanzler betrachtete die Bilder aus seiner Heimat, der er den Rücken gekehrt hatte.
    Nachdem er einen Schluck gezuckerten Kräutertee zu sich genommen hatte, fuhr Anubis schließlich zu reden fort: »Wie Ihr wisst, entwickelt jede Stadt ihr eigenes Leben. Sie atmet und träumt und ernährt sich von den Dingen, die in ihren Straßen geschehen. Eine Metropole ist voller Leben. Ja, man könnte sie sogar als ein lebendiges Wesen beschreiben. Ein Wesen, das fühlt und leidet. Aber ist sie nicht auch voll der niederen Gefühle? Denkt an Neid, Boshaftigkeit, Rachsucht, Niedertracht, Eifersucht. Ausdünstungen gleich sickern diese in den Boden. Es ist, als würde diesen niederen Gefühlen eine Gestalt verliehen, als würden ihnen Augen wachsen, die sie sehend machen, und ein Mund, der sie schmecken lässt. Ohren, die vieles hören. Gliedmaßen, die fortwährend nach dem Leid der Metropole greifen und es zu halten versuchen, weil es für die Gestalt wie süßer Wein ist, an dem sie sich allzeit zu laben vermag. Eine Metropole kann nur fortbestehen, wenn sie auf der Existenz eines Wesens errichtet worden ist, das jene Bürde auf sich nimmt. Eine Kreatur, die all das Übel in sich aufnimmt und, wenngleich sie jenes Übel auch quasi personifiziert, die Stadt davor bewahrt, zum Opfer ihrer eigenen Niedertracht zu werden.«
    »Ihr meint, dass London nur fortbesteht, weil ein Wesen existiert, das märtyrergleich die niederen Gefühle in sich aufsaugt?« Maurice Micklewhite kratzte sich ungläubig am Kopf.
    »Ihr habt es erfasst.«
    »Wie alt müsste eine solche Kreatur sein?«
    Anubis sagte: »Unermesslich alt.«
    »Hat dieses Wesen einen Namen?«, wollte ich wissen.
    Der Totengott musterte mich ungeduldig. »Wir nennen es den Ophar Nyx.«
    Später sollte Mylady Hampstead allein bei der Nennung dieses Namens erstarren.
    »Es ist der Rattengott, der seit Anbeginn der Metropole dort unten in den ewigen Tiefen haust. Rattenkönig nannte man es im Mittelalter. Doch lautet sein richtiger Name Nyx, denn das ist es, was es ist. Es ist die Nacht. Schwarz. Unendlich. Voller Untiefen. Nyx, der Ophar Londons. Er gebietet einer Welt, die ein Schattenriss der uralten Metropole ist.« Bissig lächelnd fügte er nach einer kurzen Pause hinzu: »Und einigen Ratten obendrein.«
    Emily musste an Lord Brewster denken, der seit mehr als einem Jahr untergetaucht war. Im Gegensatz zu Mylady Hampstead, deren Beweggründe aufrichtiger Natur zu sein schienen, konnte man sich bei Seiner Lordschaft Hyronimus Brewster nie gänzlich sicher sein.
    »Ihr glaubt, dass die Ratten ein doppeltes Spiel mit uns treiben?«, fragte ich.
    Nicht Mylady, beharrte hingegen meine innere Stimme. Nicht jene Rättin, die sich meiner angenommen hatte, als niemand sonst auf der Welt für mich da gewesen war. Nimmer wollte ich das glauben. Die Bedenken, die ich schon immer gegen Lord Brewster gehabt hatte, erwachten hingegen aufs Neue. Mit seltsam unstimmigen Informationen hatte uns die Ratte versorgt. War selbst nicht mal mehr in Erscheinung getreten, sondern hatte die Nachrichten durch die Trafalgar-Tauben überbringen lassen.
    »Vielleicht sollte ich dort anfangen, wo alles begonnen hat«, sagte Anubis mit ruhiger Stimme und ließ ein Stück Gebäck zwischen den Zähnen verschwinden. »Am Anfang. Zu einer Zeit, als das Chaos herrschte und die Welt nichts als ein Traum war. Der allmächtige Träumer träumte seinen Traum von der Welt, ganz so, wie die Menschen, von denen er träumte, einst den Träumer träumen würden.«
    Aurora warf Emily einen vielsagenden Blick zu.
    Warum, fragte sich Emily, können Götter sich nicht klarer ausdrücken? Sie entsann sich der Worte, die ich bereits kurz nach unserem ersten Treffen an sie gerichtet hatte: Man muss lernen zu sagen, was man meint, denn sonst wird man niemals das meinen, was man sagt.
    Der Totengott, dachte sich Emily, sollte diesen Spruch berücksichtigen.
    Unbeirrt von den Gedanken des Mädchens fuhr der Lordkanzler von Kensington fort: »Aus dem Chaos, das das Nichts war, wurden zwei Wesenheiten erschaffen. Hemera, der Tag, und Nyx, die Nacht. Sie sollten Herrscher sein. Keine Untergebenen. Gleichgestellt dem Träumer, der später die Engel erschuf. Die Engel, solltet Ihr wissen, waren zum Dienen geschaffen worden. Sie sollten dem Träumer huldigen und die Schöpfung beaufsichtigen. Man

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