Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
erzählt sich, dass Hemera und Nyx von Selbstsucht und Wollust getrieben eine Nachkommenschaft zeugten. Schlimmer noch, sie taten dies, ohne den mächtigen Träumer um Erlaubnis zu bitten. Erzürnt verbannte dieser Hemera und Nyx sowie deren Brut in die Tiefen der Erde, wo sie fortan ihr Dasein fristen mussten. Die Brut der beiden wurde über den gesamten Erdball verstreut. Dort, wo ihre Nachkommen lebten, entstanden im Laufe der Jahrhunderte die großen Städte. In Scharen zog es die Menschen an jene Orte. Natürlich wusste niemand, warum die Siedlungen, die wuchsen und wuchsen und schließlich zu Metropolen wurden, gerade an jenen Orten gediehen. Die Menschen folgten einfach nur ihren Instinkten. Glaubt mir, die Menschen spürten insgeheim, dass etwas dort lauerte, das all den Hass und die Bosheit aufsaugte. Jede Metropole der Erde ist auf der Existenz einer solchen Kreatur errichtet worden. Oder wie erklärt Ihr es Euch sonst, dass so viele Menschen so unbeschadet auf so engem Raum miteinander leben können? Ja, ich sehe es Euren Gesichtern an. Natürlich gab es – und gibt es immer noch – Mord und Totschlag. Doch stellt Euch vor, wie die Welt aussehen würde, wenn die Brut nicht unter uns lebte. Wie sähe das Gesicht Londons aus, wenn es keinen Nyx gäbe, der den Auswurf der Stadt atmet? Wie sähen Paris, Tokio oder Berlin aus?«
»Eine interessante Geschichte, zweifelsohne«, entfuhr es Maurice Micklewhite.
Ich konnte es in den blauen Augen lesen.
Auch er suchte, ganz so wie ich, nach einem verborgenen Sinn hinter den Enthüllungen des Lordkanzlers.
»Ich sehe, dass Euer Glaube nicht unbedingt Berge versetzen kann. Doch lauscht weiter meinen Worten. Ihr fragt Euch, und das zu Recht, welche Rolle Lucifer oder Lycidas, wie er sich neuerdings nennt, hierbei spielt. Nun denn … Lucifer wurde aus dem Himmel verstoßen. Aus Gründen, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte. Er wurde verstoßen und mit ihm andere Engel. Ein Leben inmitten der Sterblichen zu leben, war die Strafe für den Ungehorsam gegenüber dem allmächtigen Träumer. Doch durften sie sich den Ort ihrer Strafe aussuchen. Lucifer wählte den Ort, an dem Londinium errichtet werden würde. Andere Verstoßene wählten andere Orte. Wie ich bereits sagte, existieren viele Metropolen auf dem Erdball.«
»Sie meinen, in jeder großen Stadt der Welt lebt ein gefallener Engel?«, entfuhr es Emily.
Anubis sah das Mädchen scharf an. »Wie könnten die Menschen dort sonst überleben?«
»Ich weiß nicht.«
»Dann will ich es Ihnen sagen, kleine Trickster. Die Menschen würden an ihrem gegenseitigen Hass ersticken. Es gäbe unermessliches Blutvergießen.«
»Wenn aber doch jede Stadt eine Kreatur wie den Nyx hat …«, gab Aurora zu bedenken.
»Sie haben aufmerksam zugehört, Freundin der Trickster«, sagte Anubis. »Doch habe ich eines bisher verschwiegen. Der Nyx und seine Artgenossen sind keine Wohltäter. Es verlangt sie nach Macht, die sie rücksichtslos zu erlangen suchen. Der Nyx ist kein Diener der uralten Metropole. Im Laufe der Jahrhunderte hat er mehrmals versucht, die Herrschaft über London zu erlangen. Letztmalig kam es zu Aufständen im Eastend, die die ganze Metropole zu verschlingen drohten.« Die Lefzen verzogen sich zu einem hämischen Grinsen. »Das Werk des Ophar Nyx.«
»Ihr sprecht von den Whitechapel-Aufständen?«
»In der Tat.«
»Was wisst Ihr darüber?«
Der Lordkanzler nippte am Tee. Wie ein Hund, dachte Emily.
»Alles«, sagte er.
»Und Ihr wollt uns davon berichten?«, hakte Maurice Micklewhite nach.
»Nicht unbedingt. Doch solltet Ihr eines wissen: Der Nyx trachtet immerzu danach, die Herrschaft über London zu erlangen, doch gibt es einen Gegenpol. Ein Kampf zwischen Gut und Böse, wenn Ihr so wollt, wenngleich dieser Vergleich ein wenig einfältig gewählt wäre. Was ist schon gut und was ist böse? Macht die Absicht ein Tun böse oder das Tun selbst? Wie auch immer … der Nyx wurde von Lycidas gebannt. Ich will damit nicht behaupten, dass Lucifer das personifizierte Gute ist. Nein, das wäre vermessen. Auch er schielt nach seinem eigenen Vorteil.« Wieder das überhebliche Grinsen. »Aber tun wir das nicht alle?« Der Lordkanzler räusperte sich. »Lycidas strebt ebenso nach Macht wie der Nyx, doch in ihrer beider Bestreben, einander zu übertrumpfen, verhindern sie jeweils den Sieg des anderen.«
»Ihr sprecht von einem Gleichgewicht?« Ein mulmiges Gefühl beschlich mich.
»Ihr sagt es,
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