Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
ich wissen.
»An eben dieser Stelle. Mylady Lilith ist verschwunden. Die Engel haben sie mit sich genommen. In dem Schneegestöber, das sie in St. Paul’s entfacht hatten. Niemand weiß um ihr Schicksal.«
»Nicht einmal die Götter?«
»Wir sind Götter«, sagte Anubis, »jedoch nicht allwissend.«
»Tja.«
»Wir müssen Mylady Lilith finden und befreien.«
»Ihr glaubt also, dass sie sich in Gefangenschaft befindet.«
»Ja. Die Urieliten haben sie mit Sicherheit an einen Ort gebracht, zu dem wir keinen leichten Zugang haben. Einen Ort, den wir bisher nicht einmal kennen.«
Daher wehte also der Wind: »Und da die Urieliten bestenfalls mit Kindern sprechen …«
»… sollen wir sie fragen.« Emily hatte geahnt, dass es etwas mit Aurora und ihr zu tun haben würde.
»Etwas in der Art schwebte mir vor«, gab Anubis zu.
Betroffenes Schweigen erfüllte die Cafeteria.
Die Bilder an den Wänden zeigten die Wüste um Karnak, die Totenstadt der Könige am Nil, und ich fragte mich, warum Anubis seine Heimat verlassen hatte. War es möglich, dass sich selbst Götter in der Fremde einsam fühlten? Zugegeben … es fiel schwer, jenes Wesen mit dem Kopf eines Schakals, das an unserem Tisch saß und Tee schlürfte wie ein Wolf an der Tränke, mit derartigen Gefühlswallungen in Verbindung zu bringen. Doch wer konnte schon sagen, was wirklich gut oder böse war? Mit Sicherheit stand es niemandem zu, die Seele eines Gottes zu deuten.
Darüber hinaus brannte uns allen natürlich eine Frage auf den Lippen, die zu stellen schließlich mir oblag.
»Weshalb sollten wir Euch glauben?«, wollte ich vom Lordkanzler wissen.
»Ich gebe Euch mein Wort.«
Maurice Micklewhite warf mir einen betroffenen Blick zu.
Beide hatten wir befürchtet, dass es so weit kommen könnte.
Dem Wort eines Gottes war nichts entgegenzusetzen.
»Dann glauben wir Euch«, gab ich mich geschlagen.
Hinfort mit den Zweifeln.
»Welche Rolle spielen die Rattlinge, die Ihr erwähntet?«
»Und der Golem?«
»Die Rattlinge sind die Diener des Nyx. Es sind Vorboten, die London auskundschaften. Von der Existenz eines Golems ist mir nichts bekannt. Keiner meiner Wölfe hat mir je von einem Lehmwesen berichtet.«
Besorgt fragte Emily: »Was hat es denn mit den Rattlingen auf sich?«
»Ihr spielt auf Mylady Hampsteads Krankheit an«, sagte Anubis.
»Ja. Kann ihr geholfen werden?«
»Den Geschichten nach schuf der Nyx die Rattlinge, weil die Ratten, die seine erste Schöpfung gewesen sind, ein Bewusstsein entwickelt hatten. Ratten sind moralische Wesen. Die meisten von ihnen jedenfalls. So kam es, dass sie dem Nyx nicht länger dienen wollten und dieser eine neue Gattung schuf.«
»Die Rattlinge.«
»Mischwesen, die ihm hörig sind. Sie sind seine Augen und Ohren. Erinnert Ihr Euch der Kinder mit den Spiegelscherbenaugen?«
Emily bekam eine Gänsehaut, wenn sie sich die ausdruckslosen Gesichter all der Kinder ins Gedächtnis rief. Wie hätte sie diesen Anblick jemals vergessen können? Aurora ging es genauso.
»Master Lycidas sah durch deren Augen und eine ähnliche Funktion erfüllen die Rattlinge. Der Nyx tritt durch die Rattlinge in Kontakt mit der Welt, die er zu beeinflussen sucht. Es sind Chimairas. Nicht Ratte, nicht Reptil, weder Vogel noch Fisch noch Insekt. Das alles nicht und doch alles gemeinsam. Sie vermehren sich wie eine Plage, wenn sie erst einmal losgelassen sind.« Bedeutungsschwanger und kalt starrten die raubtierhaften Augen.
Was meint er nur damit?, fragte sich Emily.
Dann wurde ihr heiß und kalt.
»Sagen Sie, dass das nicht wahr ist«, stammelte sie.
Alle hatten wir verstanden, was der Lordkanzler gerade angedeutet hatte.
»Es ist wahr, und niemand wird etwas daran ändern können.«
Die Rattlinge waren nicht nur die Sinne des Nyx.
Nein, sie waren eine Krankheit.
Zumindest verhielten sie sich wie eine solche.
»Sie sind ansteckend«, resümierte der Lordkanzler. »Eure Rättin wird schon bald eine der ihren geworden und dem Nyx zu Willen sein. Denkt immer daran und lasst Euch nicht von falschem Mitleid leiten.«
Mir schwindelte.
Die Bedeutung dieser Worte brachte viele Erinnerungen zurück.
Mylady Hampstead war lange Zeit meine Familie gewesen, und jetzt offenbarte uns der Herrscher von Kensington, dass sie sich in eine Chimaira verwandeln würde. Auch Emily senkte betroffen den Blick.
Schweigen breitete sich aus.
Keiner vermochte es, die eigenen Gedanken auszusprechen und insgeheim gehegten Befürchtungen
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