Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Zmargad, wo sie lange Zeit als Königin herrschte.
»Hat Lilith die Schlange gekannt?«, warf Aurora ein.
»Die Schlange, die Eva verführte?«
»Ja.«
»In dem Buch, das ich gelesen habe, stand nichts davon geschrieben«, antwortete Emily.
Die Schlange war, glaubte man den Geschichten, eine hinterlistige Ausgeburt des Bösen gewesen. Der Teufel hatte das Paradies in dieser reptilienhaften Form heimgesucht und die Menschen zum Sündenfall verleitet.
»Bleibt die Frage«, gab Aurora zu bedenken, »wer letzten Endes in der Haut der Schlange steckte.«
Emily wusste, woran sie dachte, und sprach es aus: »Sind der Teufel und der gefallene Engel Lord Lucifer wirklich ein und dieselbe Person gewesen?« Wenn nämlich stimmte, was in John Miltons Buch
Das verlorene Paradies
stand, hatte Lucifer erst Jahrtausende nach dem Sündenfall der Menschen gegen den Willen des Träumers rebelliert.
»Lucifer kann demnach nicht die Schlange gewesen sein«, mutmaßte Emily, wenn auch zögerlich.
»Wenn die Schlange dem Träumer zuwiderhandeln wollte, indem sie der Schöpfung die Unschuld raubte, dann muss die Schlange doch jemand gewesen sein, der dem Träumer schaden wollte. Hatte Lucifer zu diesem Zeitpunkt denn einen Grund, weswegen er dem Träumer hätte zürnen sollen?«
»Nein, eigentlich nicht.«
Emily dachte nach.
»Vielleicht gab es noch andere wie den Träumer?«
Aurora erinnerte sich: »Hat Anubis nicht gesagt, dass es noch andere wie ihn gab und dass diese anderen verbotenerweise Nachkommen gezeugt haben und deswegen verbannt worden sind?«
»Du meinst, der Ophar Nyx, der unter London haust, war ein dem Träumer gleichgestelltes Geschöpf?«
»Dann wäre es doch möglich, dass er derjenige gewesen ist, der Eva in Gestalt der Schlange verführt hat.«
Emily seufzte. »Zumindest scheint es logisch zu sein, dass nicht Lucifer die Schlange war.«
»Warum?«
»In keiner der alten Schriften wird erwähnt, dass Lilith etwas mit der Schlange zu tun hatte.«
Lilith herrschte wie gesagt in Zmargad. Später dann in Sheba. Sie war eine mächtige Königin in einer Zeit, in der sich die Welt im Wandel befand. Sie überlebte die Sintflut im Zweistromland und gebar weitere Nachkommen. Die Lamiae waren ihre Töchter, wunderschöne Frauen, die des Nachts ausschwärmten, um Männer zu verführen und ihr Blut zu trinken.
»Ihre Töchter waren Vampire?«
Emily nickte. »Ja, in den uralten Legenden ist Lilith der Ursprung des Vampirismus.« Die berühmtesten Kinder hießen Naamah und Carathis. Viele Kulturen wissen Geschichten von den verführerischen Frauen zu berichten. »Doch gab es da auch noch einen Fluch.«
Aurora horchte auf.
»Mit dem Lilith belegt worden war?«
»Ja.«
Der Träumer bestrafte Lilith, als die Missetaten der Lilim und der Lamiae überhand nahmen. Zornig verfügte der Träumer, dass Lilith von nun an keine Kinder mehr würde gebären können. Die Missgunst, dass andere Frauen etwas vermochten, das ihr auf ewig versagt bleiben würde, sollte sie dazu verleiten, sich des Nachts in die Schlafgemächer der Menschen zu stehlen, um deren Nachwuchs zu töten.
»Was sollte dieser Fluch bezwecken?«
»Das habe ich mich auch gefragt«, entgegnete Emily.
Es war Neil gewesen, der in einem anderen Buch die Antwort auf diese Frage gefunden hatte.
Lilith war dazu verdammt worden, kleine Kinder zu töten. Die Menschen begannen sie zu fürchten und trachteten ihr nach dem Leben. Geschichten wurden erzählt, Legenden entstanden. Lilith wurde zum Inbegriff der Kindsmörderin. Malkah ha-Shadim nannten die Menschen sie furchtsam. Wachsam. Immer bereit, sie von dannen zu jagen, sobald sie sich einer Stadt oder Siedlung näherte.
»Der Träumer wollte, dass sogar die Menschen sie verstießen?«
»Ja, das war wohl seine Absicht.«
So wurde Lilith zu einem Geschöpf der Nacht, das einsam durch die Jahrhunderte wandelte und von allen gefürchtet wurde. Bei vollem Mond, erzählten sich die Menschen, könne man ihr bleiches Gesicht in der Scheibe am Nachthimmel erkennen. Selbst am Tage, behaupteten manche, verberge sie sich in den Schatten und warte nur darauf, spielende Kinder ins Verderben zu zerren. Fahrende Händler wussten von Orten zu berichten, wo Lilith ihre Zähne in das Fleisch von Säuglingen gebohrt haben sollte. Geschichten voller Leid und Blut waren es, die man mit Lilith verband.
»Denkst du, man kann diesen Erzählungen glauben?« Aurora blickte ängstlich zum Fenster hinaus, wo ein leuchtender Vollmond
Weitere Kostenlose Bücher