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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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gewusst, was sie glauben sollte. Nie hatte sie gewusst, wem sie vertrauen konnte. Bis Aurora in ihr Leben getreten war. Bis das Mädchen aus Fitzrovia dem abgenutzten alten Stoffbären, dem Emily ihren Namen verdankte, den Rang abgelaufen hatte. Heute saß der Stoffbär am Kopfende ihres Bettes im Hause der Quilps. Ihrem Zuhause. Und wenn sie nicht in Auroras Armen einschlief, dann umklammerte sie nach wie vor das treue Tier.
    In diesen stillen Momenten zumindest fühlte sie sich noch wie ein Kind.
    Und fragte sich gleichzeitig, ob sie es noch war.
    »Lilith«, fuhr sie fort, »hat mehr mit der Sache zu tun, als wir denken.« Bis zu jenem Weihnachtsfest, als der Lichtlord in Begleitung von Lady Lilith an den Stufen von St. Paul’s erschienen war, hatte niemand, nicht einmal die Ratten, auch nur im Entferntesten daran gedacht, dass Madame Snowhitepink mit Lycidas im Bunde stehen könnte. In gewisser Weise hatte es allen gezeigt, wie wenig sie doch wussten oder von der Welt verstanden, die sie umgab.
    Da Aurora damals nicht zugegen gewesen war, als Lycidas von den Urieliten in einem Wirbel aus Schnee emporgerissen und in die Laterne der Kathedrale verbannt worden war, hatte sie sich kein Bild davon machen können, wie die im Waisenhaus als Madame Snowhitepink bekannte Frau gewirkt hatte, als sie sich Arm in Arm mit Lycidas dazu angeschickt hatte, die heilige Messe zu besuchen. Deshalb bemühte Emily sich an jenem Abend nach ihrem Stadtbummel mit Neil, es der Freundin aufs Neue zu erklären.
    »Da war etwas in ihrem Gesicht, das vorher nicht da gewesen war«, versuchte Emily es zu beschreiben, als sie endlich alleine in ihrem Zimmer waren und ohne die besorgten Zwischenfragen ihrer Pflegeeltern zu reden vermochten. »Sie wirkte verletzlich. Einen Augenblick lang jedenfalls dachte ich das. Hinter der geschminkten Maskenhaftigkeit ihres Gesichts glaubte ich, Unsicherheit und Angst zu erkennen.«
    »Snowhitepink war ein böser Mensch«, erklärte Aurora unbeeindruckt.
    »Bist du dir sicher?«
    »Ich weiß es.«
    Emily musste feststellen, dass sich Aurora von dieser Meinung kaum abbringen ließ.
    Vielleicht hatte sie auch Recht, und Emily hatte sich täuschen lassen. Sie war erschöpft gewesen an jenem Abend, hatte eine anstrengende Odyssee durch die uralte Metropole hinter sich, war verängstigt und verunsichert und hatte zudem ihr Auge bei Lord Uriel lassen müssen, wodurch sie sich nackt und noch hässlicher gefühlt hatte. Die modische Augenklappe hatte dieses Gefühl gewiss nicht dämpfen können.
    »Ja, vermutlich habe ich mich geirrt.«
    Und Aurora sagte: »Das hast du bestimmt.«
    Kurz nach der Rückkehr von ihrem Ausflug nach Greenwich und Whitechapel, bevor das Gespräch auf Lilith kam, hatte sie Aurora von Little Neil Trent erzählt, den Aurora eigentlich nur als den Jungen aus dem Raritätenladen kannte. Sie hatte ihn bisher erst einmal gesehen, und das aus der Ferne.
    »Du bist verliebt«, hatte sie festgestellt, als Emily ihren Bericht beendet hatte.
    »Nein, bin ich nicht.«
    »Bist du dir sicher?«
    »Ja, bin ich.« Emily hatte sehr entschlossen geklungen.
    An den Händedruck gedacht.
    Sich verbessert: »Nein, bin ich nicht.«
    Aurora hatte geschwiegen.
    Und Emily hatte an Steerforth gedacht.
    Dorian.
    Dorian Steerforth aus Twickenham.
    Neil Trent hatte sie bis zu den Treppen der Tottenham Court Road gebracht, wo sich beider Wege trennten. Während sie dorthin spaziert waren, hatten beide es vorgezogen, nicht weiter über das zu sprechen, was ihnen durch den Kopf ging. Liliths Geschichte und die Frage, ob diese Frau noch in London weilte. Die Dunkelheit, die erneut durch die Gassen des Eastends kroch und hinabsickerte in die Untiefen der uralten Metropole. Die Nähe, die beide spürten. Nicht zuletzt: der Händedruck. Sie hatten es beide vorgezogen, sich die Sachen in den Schaufenstern anzusehen und davon zu träumen, so wie andere Menschen zu sein, deren Lebensinhalt darin bestand, die Dinge in den Schaufenstern zu begehren, und deren größte Angst es war, nicht in den Besitz der erträumten Güter zu gelangen.
    Außergewöhnliche Menschen
, hatte mich Mylady Hampstead gelehrt,
wünschen sich nichts sehnlicher, als gewöhnlich zu sein. Nur die unzufriedenen Gewöhnlichen trachten danach, als etwas Besonderes angesehen zu werden.
    Emily hätte diese Worte, wären sie ihr bekannt gewesen, nur zu gut verstanden.
    Madame Snowhitepink vielleicht sogar auch.
    »Als die Engel sie packten und von Lycidas

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