Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
das alles stimmt, dann ist die Welt, so wie sie ist, noch seltsamer, als wir es uns vorgestellt haben.«
Emily war gespannt.
Und lauschte den Worten ihrer Freundin.
Versuchte sie mit dem in Verbindung zu bringen, was sie selbst über Lilith und die Genesis hatte in Erfahrung bringen können.
»Der Träumer, so wie du ihn nanntest«, begann Aurora, »erschuf die Welt, und es wurde Licht. Ein Teil der ursprünglichen Finsternis, die einst gewesen war, blieb jedoch.«
Die Nacht war ein Relikt. Eine Mahnung, dass es nicht immer schon Licht gewesen war in der Welt. Chaos, das auch den Träumer geboren hatte, besaß zwei weitere Kinder: Hemera und Nyx. Hemera war der Schatten, den das Licht am Tage warf, und Nyx war die Nacht, vor der sich die Menschen fürchteten. Die beiden vereinigten sich und brachten eine Schar des Schreckens hervor. Unglück und Krankheit, Schmerz und Zwietracht, Elend und Alter gehörten zu ihrer Brut. Sie gebaren den Tod und den Schlaf, sich zum Verwechseln ähnlich sehende Zwillinge. Diese furchtbare Horde setzte sich in die neu erschaffene Welt hinein, um die Herrschaft über die noch nicht entstandene – doch schon bald entstehende – Menschheit anzutreten. Nyx blieb die entscheidende Macht, eine geflügelte Gottheit, die am Ende eines jeden Tages, der nur zum Teil unter der Macht seiner Schwester Hemera stand, einen schwarzen Schleier über das Firmament ausbreitete und, gefolgt von den Sternen, zum Himmel aufstieg, während unten auf der Erde die missgestalteten Söhne und Töchter erwachten und ihrem erbarmungslosen Werk nachgingen.
»Der Träumer jedoch«, erklärte Aurora, »ließ nicht zu, dass seine Schöpfung unter den Geschwistern Hemera und Nyx litt.«
Er belegte sie mit einem Bann. Nyx und Hemera und all ihre Kinder und Kindeskinder. Tief unter der Erde sollten sie ihr Dasein fristen und sich von dem nähren, was die Menschheit ausschied. Über den ganzen Erdball verstreut entstanden an den Stellen, an denen des Träumers missratene Geschwister und deren Kinder und Kindeskinder fortan lebten, die ersten Siedlungen, die wuchsen und wuchsen und zu den Metropolen der Welt wurden. Manche der göttlichen Geschwister, wie die römische Wölfin oder der kretische Minotaurus oder der Mantikor von Paris, waren bekannt, andere wiederum weniger. Wer hat schon von der gefiederten Schlange von Buenos Aires oder der Shekinah von Bagdad gehört?
»Klingt alles sehr abgefahren«, bemerkte Emily.
»Stimmt.«
Dennoch war es die Welt, wie sie war.
Wie sie sein würde.
Wie der Lordkanzler von Kensington sie beschrieben hatte.
»Irgendwann im Laufe der Jahre«, führte Aurora ihren Gedanken fort, »rebellierte dann Lucifer mit einer Schar gleichgesinnter Engel gegen das überaus strenge Regime des Träumers.«
Die abtrünnigen Engel, angeführt vom Lichtlord, wurden nach einer Schlacht, die den Himmel in Wolken und Tränen gehüllt hatte, verurteilt und in die Verbannung geschickt, wobei sich jeder gefallene Engel den Ort seiner Verdammnis erwählen durfte.
»Lucifer wählte London«, wusste Emily.
Und wurde auf diese Weise zur Nemesis des Ophar Nyx, der dort seit Anbeginn der Zeit hauste.
Womit die beiden Mädchen wieder am Ausgangspunkt ihres Gespräches angekommen waren.
»Aber sagte nicht Anubis, dass Lilith und Lycidas einander lieben?«, gab Aurora zu bedenken.
»In den Büchern, die ich gelesen habe«, sagte Emily, »stand nichts davon geschrieben, dass die beiden einander kannten.« Wie so oft hatte sie das Gefühl, noch nicht alle Teile des Puzzles in Händen zu halten. »Wir können ja die Autorin eines der Bücher fragen.«
Aurora reagierte mit einem überraschten Blick.
»Miss Monflathers«, ließ Emily die Katze aus dem Sack.
»Miss Monflathers hat ein Buch über Lilith geschrieben?«
»Zumindest über Dinge, die den Lilith-Mythos betreffen: Kabbala und Midrash.« Immerhin hatte die Schulleiterin der Mondgöttin, auch bekannt als Lilit-ah oder Lilith, ein ganzes Kapitel gewidmet. »Die Monflathers hat aber nicht einfach nur ein Buch geschrieben«, fügte Emily an, »sondern sie hat dies schon vor langer Zeit getan.«
»Wann denn?«
»Die Ausgabe, die ich im Raritätenladen gefunden habe, ist die Abschrift eines Originals aus dem Jahre 1893, das sich wiederum an mehreren Stellen auf ein Werk der gleichen Autorin aus dem Jahre 1668 bezieht.«
»Das hieße, Miss Monflathers ist …«
»… wirklich sehr, sehr alt«, beendete Emily den Satz.
Aurora fühlte sich, wie
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