Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Emily sich gefühlt hatte, als sie das Erscheinungsdatum der Erstausgabe gelesen hatte. Die Tatsache, an einer Schule unterrichtet zu werden, deren Oberhaupt seit etlichen Jahrhunderten in London verweilte, war … nicht ganz einfach zu verdauen.
»Sie war bereits alt, als Londinium jung war«, erinnerte sich Emily meiner Worte.
Dafür machte sie einen recht frischen Eindruck.
Immer noch.
Nach all den Jahren.
Vielleicht aber auch gerade wegen all der Jahre.
»Meine Güte!«, war alles, was Aurora dazu einfiel.
Draußen über der Stadt der Schornsteine wehte ein eisiger Wind, der Wolken aus dem Norden und von der See den Geruch nach Gischt mit sich brachte. Nebel kroch durch die Straßen.
»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Aurora.
»Wir sollten schlafen«, schlug Emily vor. Irgendwie hatte sie das Gefühl beschlichen, dass der kommende Tag sehr anstrengend werden würde. Regen prasselte zornig gegen das Fensterglas, und der Sturm rüttelte an den Dachziegeln. Das Haus am Streatley Place No. 17 ächzte und stöhnte.
»Immerhin wissen wir jetzt, mit wem wir es zu tun haben«, meinte Aurora.
Emily hatte bereits die Augen geschlossen.
Das steinerne Auge lag einsam auf dem Stuhl neben ihrem Bett und sog das kalte Licht des Mondes auf. Dicht am Gesicht des Mädchens ruhte der alte Teddy. Nicht missen wollte sie das treue Stofftier in dieser Nacht.
Gedankenverloren antwortete sie nur: »Immerhin.«
Beide Mädchen schwiegen.
Lauschten dem Wind und den anderen Geräuschen der Nacht. Überließen sich der Obhut halbwacher Träume.
Nach einer Weile flüsterte Aurora: »Schläfst du schon?«
Emily spürte, wie ihr Atem die Bettdecke bewegte. »Frag nicht«, erwiderte sie nur.
Dann wurde es still.
Kapitel 13
Träume
Der nächste Tag begann für Emily Laing gleich mit zwei Anrufen.
Das erste Gespräch führte sie mit mir.
»Es tut mir Leid«, entschuldigte sich Emily, nachdem ich sie gerügt hatte, sich nicht gemeldet zu haben.
»Wo haben Sie gesteckt?«
Sie sagte es mir.
»Geht es Ihnen gut?«
Direkt, wie es manchmal ihre Art war, antwortete sie: »Nein!«
Beunruhigt erkundigte ich mich nach dem Grund.
»Es ist etwas passiert.« Sie sprach leise. »Es passiert einfach zu viel in letzter Zeit.«
Verschlafen klang sie, obgleich sie schon gefrühstückt hatte und sich anschickte, den Schulweg anzutreten.
Unruhig hatte sie sich in der Nacht zwischen den Laken gewälzt. Im Schlaf gesprochen habe sie, hatte Aurora ihr vor dem Frühstück offenbart. Unverständliche Worte gestammelt und geweint. Von ihrem eigenen Schluchzen war Emily schließlich wach geworden und hatte verstört dem Sturm gelauscht, der selbst in den frühen Morgenstunden noch getobt hatte.
Zusammenhanglose Bilderfetzen hatten sie gemartert, weil sie sie nicht hatte deuten können. Erst nach und nach fügten sie sich zusammen. Da war ein großes Haus mit langen Korridoren voller Schatten und dicken Teppichböden mit verworrenem Muster. An den Wänden hingen riesige Bilder, die finster dreinschauende Gesichter zeigten. Je wacher ihr Verstand geworden war, umso besser hatte Emily verstanden, was sie da gesehen hatte. Es waren Erinnerungsfetzen aus dem Kopf ihrer kleinen Schwester gewesen. Fragmente der Gefühlswelt eines jungen Mädchens, die über die Dächer der Stadt der Schornsteine hinweg ihren Weg bis hinauf nach Hampstead gefunden hatten, mitten hinein in den Verstand einer träumenden Trickster.
»Sie fürchtet sich«, hatte Emily in der Nacht gestammelt und nicht einmal gewusst, was genau sie damit sagen wollte.
Erneut waren Bilder auf sie eingestürmt. Eine massive hohe Tür, die verschlossen war. Ein Schrei hallte durch den Korridor. Nahezu tobsüchtig. Schrill. Mara weinte. War verzweifelt. »Sie fürchtet sich vor ihrer … unserer … Mutter«, hatte Emily verwirrt gestammelt. »Etwas Schreckliches geschieht dort unten.« Dort unten im Regent’s Park, hinter den grauen Mauern von Manderley Manor.
»Wovon redest du?« Aurora hatte richtiggehend Angst um ihre Freundin bekommen, die zitternd neben ihr im Bett kniete und wirres Zeug redete.
Dann war Emily in Tränen ausgebrochen.
»Mara.«
Einer Beschwörungsformel gleich hatte Emily den Namen ihrer kleinen Schwester geflüstert.
»Mara.«
Damals im Waisenhaus, als ihr Lord Brewster aufgetragen hatte, nach dem Neuzugang zu sehen, hatte sie ja nicht ahnen können, dass es ihre Schwester gewesen war, die in dem Bettchen im großen Schlafsaal lag und friedlich vor sich hin
Weitere Kostenlose Bücher