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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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die Dächer Londons fahl glänzen ließ. Im Glanz dieses Mondes war jedenfalls kein Gesicht zu erkennen, obgleich das bleiche Leuchten an das Gesicht der schrecklichen Frau erinnerte.
    Madame Snowhitepink.
    Die gelegentlichen Besuche in Rotherhithe.
    »Ich weiß es nicht«, gestand Emily. »Aber das ist ihre Geschichte.«
    »All die Kinder, die aus dem Waisenhaus verschwunden sind …« Aurora scheute sich davor, den Satz zu beenden. Sie erinnerte sich an die Frau mit den kalten Katzenaugen und der blonden Löwenmähne und an die verzweifelten Blicke der Kinder, denen das Pech zuteil geworden war, dass die spitzen, langen, farbigen Fingernägel auf sie deuteten, und sie der geschminkten Frau folgen mussten, weil diese wieder ein Geschäft abzuwickeln hatte, für das sie eines der Kinder benötigte.
    »Snowhitepink ist Lilith.«
    Emily hatte es einfach aussprechen müssen.
    Es fiel ihr schwer zu glauben, dass ein Wesen, so alt wie die Zeit, all die Jahrhunderte über hier in London gelebt haben sollte und noch immer irgendwo in der Stadt verborgen war. Wie oft war sie der geschminkten Frau im Treppenhaus des Waisenhauses begegnet, um mit niedergeschlagenem Blick an ihr vorbeizuhuschen und ein stilles Dankesgebet zu flüstern, weil das Glasauge sie für die schrecklichen, geheimnisvollen Zwecke Madame Snowhitepinks unbrauchbar gemacht hatte.
    Aurora saß ihr gegenüber auf dem Bett.
    Wirkte nachdenklich.
    »Glaubst du«, wagte sie nach einem unangenehmen Moment des Schweigens zu fragen, »dass die Snowhitepink selbst so eine Art Vampir war? Ich meine, dass sie manchen der Waisenkinder, die wir nie wieder gesehen haben, das Blut ausgesaugt hat?«
    »Nein, eigentlich glaube ich das nicht.« Emily ergriff ihrer Freundin Hand und hielt sie fest. Aurora, das wusste sie, dachte an das, was sie damals erlebt hatte und über das sie noch immer Schweigen bewahrte. Dass ihre Freundin diese Frage gestellt hatte, beruhigte Emily ein wenig. Was immer Madame Snowhitepink mit Aurora angestellt haben mochte, das Blut hatte sie ihr jedenfalls nicht ausgesaugt.
    »Es gibt viele Arten von Vampirismus«, gab Emily zur Antwort. »Wittgenstein erklärte mir, dass die meisten Menschen Vampire sind. Sie stehlen dir Zeit und Kraft. Belästigen dich mit unwichtigen Dingen. Sind egozentrisch und fragen niemals nach dem Wohlbefinden der anderen.«
    Aurora schwieg.
    »Nein, die Snowhitepink ist kein Vampir. Zumindest keiner, der Blut saugt.«
    »Bist du dir sicher?«
    »Natürlich nicht.« Emily war ein Kind und nicht allwissend. »Aber wie gesagt halte ich es für wenig wahrscheinlich. Master Micklewhite offenbarte uns doch vor einem Jahr, dass die Snowhitepink gemeinsam mit dem Reverend Experimente durchgeführt haben soll, um auch von älteren Kindern das Lebenselixier zu gewinnen.«
    »Stimmt.«
    »Sie hat also etwas anderes als Blut benötigt.«
    »Die Unschuld von Kindern, mit der sie und Lycidas den Lebensbaum getränkt haben.«
    War dies nicht auch eine Spielart des Vampirismus?
    Der Wyrm im inneren der Metropole nährte sich von der Unschuld der Kinder und sonderte ein Sekret ab, das den Lebensbaum tränkte. Aus den pulsierenden Früchten des Lebensbaums wiederum gewann Lycidas jenes Elixier, das ihm neue Kraft schenkte und ihn und seine Gefährtin – nicht zu vergessen, den Reverend – vor dem Älterwerden bewahrte. Er bot sozusagen dem Träumer, der ihn einst nach London in die Verbannung geschickt hatte, noch immer trotzig die Stirn und widersetzte sich seinem Schicksal, wie der Rest der göttlichen Schöpfung altern zu müssen. Das alles gelang ihm nur, indem er die Kinder opferte.
    Mit Schaudern erinnerte sich Emily an die Kinder mit den Spiegelscherbenaugen.
    Noch immer weilten sie unten im neunten Höllenkreis.
    Irgendwann, dachte sich Emily, würden sie etwas unternehmen müssen, um die Kinder zu retten. Oft hatte sie Maurice Micklewhite und mich gebeten, uns etwas einfallen zu lassen.
    Dummerweise war uns nichts eingefallen.
    Wir hatten nicht die geringste Ahnung, wie man den armen Kindern helfen könnte. Nur einer wäre dazu in der Lage und der war gefangen in der Laterne der St.-Paul’s-Kathedrale.
    Ihn zu befreien war unser Ziel.
    Letzten Endes.
    Nur so würden wir den Nyx bannen können.
    Die Kinder wussten das und fürchteten sich verständlicherweise vor der Aufgabe, die sie erwartete.
    »Ich habe in der Nationalbibliothek nachgeforscht und einiges über den Nyx herausgefunden«, offenbarte Aurora ihrer Freundin. »Wenn

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