Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
schlummerte. Seitdem hatte Emily kaum mehr Gelegenheit gehabt, die kleine Mara zu Gesicht zu bekommen. Einige wenige Male war es ihr vergönnt gewesen, Mara in Begleitung Miss Andersons, der Gesellschafterin der Manderleys, in einem der Parks zu sehen. Doch dies auch nur aus der Ferne. Emily hatte gespürt, dass es keinen Sinn hatte, sich der Kleinen mitzuteilen, denn sie hätte nicht verstanden, was in ihrem Kopf geschah. Welche Stimme es war, die da zu ihr sprach. Stattdessen hatte Emily sich darauf beschränkt, ihrer Schwester ein Gefühl der Nähe zu vermitteln. Mara sollte spüren, dass sie nicht allein war in der Welt. Dass es noch jemanden gab, der ihr, wenngleich er sich auch nicht zu erkennen geben konnte, beistehen würde, was immer da auch käme.
»Mara.«
»Emmy, komm zu dir!«Aurora hatte sie gerüttelt und geschüttelt.
»Es passiert etwas. In dem großen Haus.«
Etwas stimmte nicht.
Während früherer Kontakte waren die Bilder meist weich und warm gewesen.
Niemals so zahnreibend.
Knirschend.
Hoffnungslos.
»Sie ist verzweifelt«, hatte Emily gestammelt.
Was war nur los mit ihr?
Das lange Gespräch über Lilith und den Nyx, der Nachmittag im Raritätenladen und der Spaziergang hinunter nach Greenwich, Neil Trent und Dorian Steerforth. Es war einfach zu viel. Sie war ein Kind. Ja, noch immer war sie ein Kind. Knappe dreizehn Jahre alt, meine Güte! Das alles erschien ihr mit einem Mal übermächtig groß zu sein. Die Gefahr, die der Metropole drohte. Das Treffen mit dem Lordkanzler von Kensington. Der Abstieg hinunter in die Region. Der Golem. Die Whitechapel-Aufstände. Die Familie, die nichts mit ihr zu tun haben wollte. Und jetzt auch noch die kleine Mara, die sich in Manderley Manor zu Tode ängstigte.
»Alles dreht sich«, flüsterte sie.
Rieb sich die Augen.
Und stellte erschrocken fest, dass sie das Auge nicht trug. Auf einmal fühlte sie sich ohne jeglichen Schutz. Nackt. Verloren. Hektisch suchte sie in der mondhellen Dunkelheit des Zimmers nach dem Mondstein. Als sie ihn fand und seine Kälte spürte, als sie ihn ans Gesicht heranführte und in die leere Augenhöhle drückte, da fühlte sie sich, als kehre ein Teil von ihr zurück.
»Du solltest schlafen.«
Emily war dem Rat der Freundin gefolgt.
Schweren Herzens hatte sie sich zur Ruhe gezwungen. Und war letzten Endes dann doch noch in unruhigen Schlaf gesunken, der Tatsache gewiss, dass Aurora Fitzrovia über sie wachen würde.
War es also verwunderlich, dass sie sich am nächsten Morgen nicht wohl fühlte?
Mitnichten!
»Wir müssen uns treffen!«, drängelte ich am Telefon.
»Wir beide?«
»Erinnern Sie sich an Rahel?«
Natürlich erinnerte sie sich an Rahel, den Engel, der in den Straßen Londons musizierte und sie zu Lord Uriel geführt hatte.
Heaven, I’m in heaven, and my heart beats so that I can hardly speak
. Das war es, was er gesungen hatte, und dasselbe Lied hatten die Urieliten angestimmt, als sie Lycidas in die Kathedrale verbannt hatten. Zufälle gibt es nicht, dachte sie.
Oder doch?
Manchmal?
Wenn auch selten?
Ihre Gedanken machten einen Sprung zum edlen Antlitz Dorian Steerforths, und es verbanden sich zwei Melodien:
I’ve seen that face before
von Grace Jones sowie
And my heart beats so that I can hardly speak
.
»Miss Emily Laing?«, fragte ich ungeduldig nach, als ich keine Antwort erhielt.
»Ja, tut mir Leid.«
»Schon gut.«
Schweigen.
»Und?«
»Ja, ich erinnere mich an Rahel.«
Gut so.
»Er arbeitet vormittags im Virgin Megastore am Piccadilly. Dort möchte er uns treffen. Ich habe Miss Monflathers bereits informiert. Sie haben heute schulfrei.« Beinah hätte ich es vergessen: »Das gilt natürlich auch für Miss Fitzrovia. Richten Sie ihr bitte aus, dass Maurice Micklewhite sie zu sprechen wünscht. In seinem Büro. Sobald sie dort sein kann.«
»Hm.«
Das war alles?
»Werden Sie zum Virgin Store kommen?«
Natürlich würde sie dort auftauchen.
»In einer Stunde.«
So verblieben wir. »In einer Stunde.«
Anrufer Nummer zwei war Dorian Steerforth.
Der sich in aller förmlichen Höflichkeit nach dem werten Befinden von Miss Emily Laing aus Hampstead erkundigen wollte. Gerade hatte Emily Aurora davon in Kenntnis gesetzt, dass man sie im Britischen Museum erwartete, als das Telefon erneut zu piepsen begonnen hatte. Glücklicherweise waren weder Mr. noch Mrs. Quilp in der Küche zugegen, und Aurora befand sich gerade im Bad.
»Es geht mir gut«, beantwortete Emily die Frage und
Weitere Kostenlose Bücher