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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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gewachsener Mann von orientalischem Aussehen den Lesesaal betrat. Maurice stellte ihn Emily als Alexander Grant vor, aus der ägyptischen Abteilung. »Dr. Grant hat sich während unseres Gespräches der kleinen Überraschung angenommen«, sagte Maurice feierlich.
    Doch Emily achtete nicht auf den gut gekleideten jungen Mann.
    Sie starrte nur auf die Person, die hinter dem Mann den Raum betreten hatte. Tränen traten in die Augen des Mädchens. Langsam erhob sie sich und ging mit schneller werdenden Schritten auf die kleine Person zu, die sich ihr im Laufschritt näherte. Dann fielen sich die beiden Mädchen in die Arme und weinten laut vor Freude.
    »Wir dachten«, gestand ich, »dass eine gute Freundin als seelischer Beistand bei den Dingen, die uns bevorstehen, hilfreich sein könnte.«
    Emily heulte und war wieder ganz das kleine Kind, das ich an der Tottenham Court Station aufgegabelt hatte.
    Ich erhob mich von meinem Platz und ging auf die beiden Kinder zu.
    »Miss Aurora Fitzrovia«, begrüßte ich die Neuangekommene. »Seien Sie uns willkommen. Wittgenstein ist mein Name. Master Micklewhite ist Ihnen bereits bekannt.«
    Emily und Aurora beachteten mich kaum.
    Sie lagen einander in den Armen und konnten nicht aufhören zu schluchzen.
    Die anderen, in ihrer Ruhe beim Lesen und Recherchieren empfindlich gestörten Besucher des Lesesaals warfen uns böse Blicke zu. Alexander Grant verabschiedete sich mit einem Kopfnicken.
    »Den habe ich mitnehmen können.«
    Emily traute ihren Augen kaum.
    »Wo hast du ihn gefunden?«
    »Unter dem Kopfkissen in deinem Bett. Da, wo er immer liegt.«
    Aurora hielt einen alten, zerlumpten Stoffbären in der Hand. Als Emilys Blick auf das Stofftier fiel, weinte sie nur noch mehr. Es war eine Szene, die drei Seiten in einem Roman von Charles Dickens gefüllt hätte. Da wir uns jedoch auf das Wesentliche beschränken, belasse ich es dabei, das Glück und die Erleichterung der kleinen Mädchen in dem eben beschriebenen Bild festzuhalten.
    »Wie haben Sie das nur angestellt?« Vor Freude fiel Emily mir unnötigerweise um den Hals.
    »Fragen Sie nicht.«
    Und ganz wie es die Art der kleinen Emily war, fragte sie doch.
    Kehren wir also kurz zurück nach Rotherhithe.
    Folgen wir Maurice Micklewhite durch die dunklen Gassen, schleichen wir durch den dichten Nebel, der vom Ufer heraufkriecht, und treten wir ein in jenes düstere Waisenhaus, in dessen Mauern alles begonnen hat. Erinnern wir uns kurz an die übereilte Flucht der kleinen Emily aus dem Haus.
    Was war geschehen, nachdem Emily in die Nacht hinausgelaufen war? Welche Tumulte hatte es im Waisenhaus gegeben? Für Reverend Dombey waren die Ereignisse ein zweifacher Rückschlag gewesen. Zum einen hatte er in einer Nacht zwei seiner Schützlinge verloren, Nummer Neun und Nummer Einunddreißig, was ihn natürlich nicht wegen der Schicksale der Kinder bekümmerte, sondern wegen des finanziellen Verlustes. Wer wusste schon, welche Einnahmen Madame Snowhitepink mit den beiden Kindern erzielt hätte, wenn auch erst in ferner Zukunft. Zum anderen hasste der Reverend Widerspruch von seinen Schützlingen, und Emily hatte ihm in diesem Punkt doppelt zugesetzt. Es war ihr gelungen, in die private Kammer einzudringen, was vorher noch keines der Kinder gewagt hatte, und darüber hinaus war sie aus eigener Kraft aus dem Haus geflohen, was niemals hätte passieren dürfen. Ob das Verschwinden von Emily mit dem der kleinen Mara zusammenhing, das wollte der Reverend ergründen. Und dies dachte er zu erreichen, indem er die Freundin der miesen kleinen Ausreißerin befragte. So kam es, dass sich Aurora Fitzrovia keine halbe Stunde, nachdem Mr. Meeks seine Katze eingefangen und man den Keller sowie das zerbrochene Fenster im zweiten Stock verriegelt und mit Brettern vernagelt hatte, in der Kammer des Reverends wiederfand.
    Charles Dombey beäugte das kleine Mädchen über seine Hakennase hinweg. Er hasste dieses Kind. Eine Göre irischer Abstammung und dazu noch von schwarzer Hautfarbe. Aurora zitterte am ganzen Leib. Nachdem sie die ersten Fragen des Reverends nicht beantworten konnte, half dieser mit einem neuen Rohrstock nach, prügelte immer wilder auf die Kleine ein, ohne jedoch die erhoffte Antwort zu erhalten. Aurora wusste nichts über das Verschwinden des Neuzuganges, und keine Macht der Welt würde sie dazu bewegen, ihre Freundin zu verraten. Sie hoffte natürlich, dass Emily die Flucht gelungen war. Doch konnte man nie wissen. Wenn sie die

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