Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
Vom Netzwerk:
bewusstlos in einer Ecke liegen blieb. »Kleine Portion rabenschwarze Nacht gefällig?«, zischte Micklewhite gönnerhaft, verriegelte die Tür und ging seines Weges.
    Fünf Minuten später waren Aurora und Master Micklewhite am Bahnhof Rotherhithe, wo sie die East London Line hinauf nach Whitechapel bestiegen. Es schloss sich eine Tour de Force durch die Kaufhäuser der City an, nach der sich die kleine Aurora selbst kaum wiedererkannte.
    »Die Lumpen können wir wegwerfen«, kommentierte ihr Begleiter den Kaufrausch und versorgte das Mädchen mit allem, was sie benötigte, um wie ein Mensch auszusehen. Später dann ließen sich die beiden, voll bepackt mit Einkaufstüten, in einem McDonald’s am Piccadilly nieder, wo die kleine Aurora von den Dingen erfuhr, die sie erfahren musste.
    Sechs Stunden, neununddreißig Minuten und unbedeutende achtundvierzig Sekunden, nachdem sie das Waisenhaus in Rotherhithe verlassen hatte, betrat Aurora das Britische Museum. Sie wurde der Obhut eines jungen Gelehrten namens Alexander Grant anvertraut, der ihr abenteuerliche Geschichten aus dem alten Ägypten erzählte. Die Legende des Kalifen Vathek, der sich zum Pakt mit dem Unterweltgott Eblis entschließt. In den Ausstellungsräumen führte er sie herum. Half die Zeit zu überbrücken, bis Emily Laing und meine Wenigkeit in den heiligen Hallen der Nationalbibliothek ankamen.
    Maurice Micklewhite hatte ganze Arbeit geleistet.
    Man konnte es unschwer in den Augen der Mädchen erkennen.
    »Wie haben Sie das nur angestellt?«, hatte mich Emily gefragt.
    Eigentlich hatten es Maurice Micklewhite und Lord Brewster angestellt.
    Ich hatte den beiden nur einen Hinweis gegeben. Auf ein dunkelhäutiges Waisenkind, das seine Freundin vermisste.
    Später am Abend hatte Emily Laing, meine kleine Schutzbefohlene, dann ihre erste Vision.
    Noch immer befanden wir uns in den Räumen der Nationalbibliothek, die nunmehr, nachdem die letzten Besucher sie bereits vor Stunden verlassen hatten, einsam und schattenhaft erschien. Nur wenige Kerzen flackerten und ließen lange unruhige Schatten in der riesigen Kuppel tanzen, während draußen in der Nacht ein Schneesturm die Stadt fest im Griff hielt.
    »Wie soll ich es denn nur anstellen?« Emily stand inmitten des Lesesaals, zwischen zwei Tischreihen, und wirkte unsicher und angespannt.
    Aurora Fitzrovia lauschte gespannt der Unterhaltung.
    Maurice Micklewhite folgte der Veranstaltung von seinem Platz an einem der Tische aus. Ruhig saß er da, die Füße mit den hohen Stiefeln hochgelegt. Abwartend.
    »Wir werden den Pfad gemeinsam beschreiten«, erklärte ich Emily.
    Dann, ohne unnötig Zeit zu verlieren, begann ich.
    Hinter Emily stehend umfasste ich ihren Kopf mit beiden Händen und drehte ihn sanft ein wenig, während ich leise einen alten Gesang anstimmte und ihr ins Ohr hauchte. Langsam schlossen sich ihre Lider. Ich beschwor das Schneegestöber vor ihren Augen, forderte sie auf, sich den tänzelnden Flocken hinzugeben, eins mit ihnen zu werden und davonzuschweben. Jetzt sähe sie die Stadt unter sich, den sich windenden Fluss, die schillernden Leuchtreklamen von Soho und Trafalgar, die ehrwürdige Kuppel der St.-Paul’s-Kathedrale, die zackigen Türme der Westminster Abtei, die ameisenklein daherwuselnden Massen von Passanten tief unten im Labyrinth der Straßen und Gassen.
    Ich lockerte den Griff und ermutigte sie, in die düstere Welt unter sich hinabzutauchen.
    Beschwor ihre Sinne.
    Erinnerte an die kleine Mara.
    Flog mit ihr ganz weit oben in den Wolken.
    Dann ließ ich sie los.
    Schnell und überraschend.
    »Sehen Sie!«
    Emily riss die Augen auf. Die Flammen der Kerzen spiegelten sich kalt in dem künstlichen Glasauge. Emilys Körper versteifte sich, sie drehte den Kopf und sah zu einer der Regalreihen hinüber. Nichts als Schatten waren dort zu erkennen.
    »Es ist dunkel«, murmelte sie.
    Aurora blickte ängstlich von Emily zu mir und wieder zurück.
    »Es ist kalt. Dunkel und kalt. Die Wände sind glatt und schmutzig. Es riecht nach Abfall. Muffig und feucht. Jemand weint. Da ist ein Schnaufen. Etwas knurrt.«
    »Folgen Sie diesem Pfad!«, befahl ich ihr.
    »Ich will nicht.«
    »Sie müssen!«
    »Ich habe Angst. Da ist etwas. Etwas, das atmet. Etwas, das mir folgt. Eine Wand. Schmutzige Kacheln. Eine Gestalt. Sie bewegt sich nicht. Ein lang gezogener Körper, aus dem lange Beine ragen, die bis in die Dunkelheit reichen.« Emily zitterte. »Es bewegt sich nicht.«
    Der Blick des kleinen

Weitere Kostenlose Bücher