Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Häscher des Reverends wieder einfingen, dann hätte sie im Waisenhaus einen noch schwereren Stand als ohnehin schon. Niemandem wäre also geholfen, wenn der Reverend von dem Plan der beiden Mädchen erfahren würde. Also schwieg Aurora. Und wurde deswegen geschlagen.
Nach einer Stunde verlor der Reverend jedoch das Interesse an ihr und ließ sie in eine der Dunkelkammern im Keller des Waisenhauses sperren, erst einmal ohne Essen und ohne Decke, sollte sie doch sehen, wie kalt es des Nachts sein konnte, wenn man ungehorsam gewesen war.
Also verbrachte Aurora die Nacht allein in einer der dunklen Zellen im Keller, wo die unartigen Kinder des Öfteren hingebracht wurden. In der undurchdringlichen Finsternis spürte sie Insekten am Boden entlangkriechen. Dann streifte einmal ein kleiner pelziger Leib ihre Hand und ließ sie erschrocken aufschreien. Die Maus oder Ratte oder was immer es sein mochte, piepste leise in der Dunkelheit, als habe sie dem Mädchen etwas mitzuteilen. Natürlich bekam es Aurora mit der Angst zu tun und verscheuchte das Tier mit lauten Rufen. Sie wusste, dass das Ausharren in der Dunkelkammer Tage dauern konnte. Also stellte sie sich auf einen längeren Aufenthalt in diesem modrigen Kellerloch ein.
Wer hätte ihr den überraschten Blick verübeln können, als sich bereits am übernächsten Morgen in aller Frühe die schwere Tür öffnete und Mr. Meeks nebst einem seltsamen, hoch gewachsenen Mann im Türrahmen standen. Der blond gelockte Mann mit den strahlend blauen Augen trug einen hellen Anzug und darüber einen hellen, bodenlangen Mantel mit dickem, weißem Pelzkragen. Der Fremde sprach sie mit einer leisen und freundlichen Stimme an.
»Miss Aurora Fitzrovia?«
Sie sah, dass auf seiner Schulter eine Ratte saß.
Das Tierchen musterte sie neugierig mit den schwarzen Knopfaugen, und Aurora musste unwillkürlich an die Geschichte denken, die Emily ihr erzählt hatte. Diese Ratte hier hatte jedenfalls einen hellen Fleck zwischen den Äuglein, genau wie jene Ratte, die mit Emily gesprochen hatte.
»Reverend Dombey hat dich vermietet, du kleines schwarzes Luder«, herrschte sie ein übel riechender Mr. Meeks an.
Mit einer Stimme, die irgendwie unwirklich und sehr bedrohlich klang, sagte der Weißgekleidete bestimmt: »Schweig, Restefresser!«
Der Fremde packte den verdutzten Mr. Meeks mit einer wieselflinken Bewegung an der Gurgel und drückte dessen Körper gegen die Wand. Die Füße des Hausmeisters, die in schmutzigen Stiefeln steckten, baumelten ein gutes Stück über dem Boden.
»Sie sollten sich bei Miss Fitzrovia entschuldigen!«
Mit verzerrtem Gesicht presste Mr. Meeks mühsam hervor: »’tschul’gung.«
Der Fremde lockerte seinen Griff jedoch keineswegs.
»Darf ich mich vorstellen.« Strahlend blaue Augen musterten das Mädchen. »Master Micklewhite.«
»Aurora«, sagte Aurora.
»Und dieser Herr hier ist Lord Brewster.«
Mr. Meeks starrte die beiden aus geweiteten Augen an.
»Die sich nunmehr in einer nicht sehr angenehmen Situation befindliche Ausgeburt des unerträglichsten weißen Abschaums, der das Angesicht der Stadt besudelt«, meinte Master Micklewhite, »hat natürlich keine Ahnung, mit wem er es zu tun hat, nicht wahr? Er weiß nicht, dass ich ihm mit einem Fingerschnippen den Hals brechen kann, wenn ich es nur will.«
»Muss ich mit Ihnen kommen?«, fragte Aurora.
Master Micklewhite lachte freundlich. »Ich biete Ihnen an, Sie mit mir zu nehmen.«
»Sind Sie …?«
»Ein Kunde von Madame Snowhitepink?« Er lachte. »Nein, kleine Miss Fitzrovia. Wenngleich ich dem Reverend ein kleines Gaunerstück vorspielen musste. Immerhin wollte ich nicht allzu viel Aufsehen erregen. Ein Freund schickt mich, dessen Name ihnen gewiss nichts sagen wird. Doch kümmert er sich um eine gute Freundin, die gerne wieder in Ihrer Gesellschaft weilen würde. Miss Emily Laing, die Sie doch sehr wohl kennen.«
Auroras Augen leuchteten auf. »Geht es ihr gut? Wo ist sie? Was ist passiert?«
»Wir sollten einen gastlicheren Ort aufsuchen als diesen hier, um all die Fragen zu beantworten.«
Mr. Meeks baumelte noch immer im festen Griff des Fremden.
»Packen Sie hurtig Ihre Sachen, und dann lassen Sie uns von hier verschwinden.«
Während Aurora flink aus der Kammer huschte, wandte sich Master Micklewhite dem Hausmeister zu, der den Fremden nunmehr ängstlich und verunsichert anstierte. Mit einer wegwerfenden Handbewegung schleuderte er Mr. Meeks in die Kammer hinein, wo dieser
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