Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Mädchens veränderte sich. Wurde wacher.
Zögerlich traten ihr Tränen in die Augen.
»Es ist vorbei«, sagte ich.
Erleichtert sah sie mich an, knabberte nervös an der Lippe.
»Sie sind wieder hier.« Ich trat vor sie, berührte sie kurz an den Schultern. »In der Bibliothek.«
Langsam kehrte sie in die Wirklichkeit zurück und suchte sogleich nach ihrer Freundin, die augenblicklich zur Stelle war und sie umarmte und gleichzeitig mir einen vorwurfsvollen Blick zuwarf.
»Was haben Sie mit ihr gemacht?«, fauchte mich Aurora wütend an.
»Es geht ihr gut.«
»Es ging mir schon besser.« Emily zitterte immer noch. »Es war gruselig.«
»Ich weiß. Es wirkt sehr …
echt
.«
Maurice Micklewhite erhob sich von seinem Platz. »Sie haben also Chelsea passiert«, stellte er fest. Gedankenverloren begann er im Lesesaal auf und ab zu marschieren. Offenkundig beunruhigte ihn etwas.
»Was habe ich gesehen?«, wollte Emily wissen, der die Besorgnis des Elfen nicht entgangen war.
»Sie haben durch die Augen Miss Mara Mushrooms gesehen.«
»Was war das für ein abscheuliches Ding? Es sah aus wie eine riesige Spinne.«
»Es ist eine Skulptur. Arachnidas Gabel«, erklärte ich ihr. »Das ist, wie der Name bereits vermuten lässt, eine Weggabelung. Drüben in Chelsea. Tief unter dem London, das ihre Augen zu sehen gewohnt sind.«
Die beiden Mädchen musterten mich neugierig.
»Was ist das für ein London?«, wollte Aurora wissen.
»Fragen Sie nicht so viel!«
Emily wirkte genervt. »Warum müssen Sie das immer sagen?«
»Ich sage es, Miss Emily, weil es das ist, was ich sagen möchte.«
»Welches London meinen Sie?« Sie ließ nicht locker.
»Die Stadt unter der Stadt.« Maurice Micklewhite schälte sich langsam aus den Schatten. »Die uralte Metropole.«
»Sie werden sie bald mit eigenen Augen sehen«, versprach ich den beiden Mädchen. »Denn dies ist der Ort, den wir aufsuchen müssen. Dorthin hat man Miss Mara Mushroom verschleppt.«
»Was sind das nur für schräge Typen?«
Die beiden Mädchen waren zum ersten Mal seit ihrer Wiedervereinigung allein und ungestört. Sie saßen auf dem Bett im Gästezimmer meiner Wohnung in Marylebone, da ich sie unbeaufsichtigt dort zurückgelassen hatte, um einige dringliche Besorgungen zu machen.
Nachdenklich betrachtete Emily den alten Stoffbären in ihrer Hand.
»Sie brauchen meine Hilfe.«
»Das behaupten sie.«
»Du glaubst ihnen nicht?«
Aurora zuckte die Achseln. »Weiß ich’s? Master Micklewhite ist freundlich, aber Wittgenstein ist mir unheimlich. Die zusammengekniffenen Augen scheinen andauernd zu lauern. Er ist einfach nur seltsam. Diese altmodischen Klamotten. Seit hundert Jahren läuft niemand mehr so durch die Gegend.«
»Er hat mir geholfen.«
»Weil er dich braucht, Emmy.«
Emily überlegte kurz. »Ich vertraue ihm.«
Irgendwie tat sie das.
Die beiden Mädchen sahen sich nur an und schwiegen, lauschten dem Wind, der draußen in der Nacht heulte. Beider Gedanken flogen über den eisigen, grauen Fluss hinunter nach Rotherhithe zum Waisenhaus, dem sie beide auf so wundersame Weise entkommen waren.
»Denkst du wieder oft an deine Eltern?«
Emily nickte.
»Wittgenstein behauptet, dass ich ein Wechselbalg bin. Die Mutter eine Elfe, der Vater ein Mensch. Deshalb sehen die auch so aus.« Sie zeigte Aurora ihre Ohren, die offenkundig spitzer waren, als sie es hätten sein dürfen. »Außerdem habe ich diese Dinge gesehen. Aurora, ich kann es wirklich.« So viele Bilder waren auf sie eingestürmt. Doch nicht nur Bilder waren es gewesen. Auch Gefühle. Furcht vor einem Tier, das sie nicht deutlich genug hatte sehen können. Irgendwie hatte sie bei dem Tier an den Werwolf denken müssen, der ihr in der U-Bahn aufgelauert hatte.
War Mara noch in seiner Gewalt? Was gedachte die Kreatur mit dem Mädchen anzustellen? Maurice Micklewhite hatte immerzu einen Namen genannt. Mushroom. Ein Name, den Emily bereits von der Ratte vernommen hatte und der ihr auch sonst seltsam vertraut vorkam, wenngleich dies gar nicht sein konnte. Wieso hatte der Neuzugang, dessen Augen Emily an ihre eigenen Augen erinnert hatten, einen Nachnamen? Kannte der Elf die Familie der Kleinen?
Emily seufzte.
Dachte an die Bilder.
Den Tunnel und das, was man dort unten als Arachnidas Gabel bezeichnet.
»Was war das für ein Gefühl?«
»Hm«, machte Emily nur. »Irgendwie so, als wenn man innerlich stirbt.«
Aurora ergriff die Hand ihrer Freundin.
Emily sah sie traurig an. »Wir
Weitere Kostenlose Bücher