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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Fremder lesen.«
    Sie starrte mich an, als sei ich übergeschnappt.
    »Lord Brewster behauptet, dass Sie weitaus talentierter darin sind, Dinge zu sehen, als andere Wechselbälger. Es wurde Ihnen in die Wiege gelegt. Zweifeln Sie nicht daran, dass Sie ein ganz besonderes Talent haben. Die Ratten, und das können Sie mir glauben, haben eine Nase für so etwas.«
    »Warum gerade ich?«
    Maurice lachte amüsiert. »Warum geht die Sonne auf, hm? Sind etwa die Sterne nur Nadelstiche im Mantel der Nacht? Wer weiß? Was wir jedoch wissen, ist, dass Sie anders sind als die meisten Trickster.«
    Emily sah ihn erschrocken an.
    »Warum?«
    Mit dem Zeigefinger berührte sie sachte ihr totes Auge.
    »Es ist wegen dem hier«, flüsterte sie mit banger Gewissheit. »Es ist das Glasauge.« Die Hand des Mädchens zitterte merklich. Ihr gesundes Auge wanderte unruhig im Raum umher.
    »Ja, es ist Ihr Glasauge.«
    »Was tut es?«
    »Es sieht weiter.«
    »Sind Sie sich sicher?«
    »Nein.« Ich beschloss, ehrlich zu ihr zu sein. »Aber wenn Sie eine so starke Fähigkeit haben, dass Lord Brewster Sie für unsere Zwecke einspannen möchte, dann muss es eine Ursache geben. Und das Glasauge ist eine Erklärung, die nahe liegt.«
    Sie überlegte, was ich wohl damit gemeint haben könnte.
    »Was soll ich sehen?«
    Maurice nippte an seinem Tee.
    »Sie sollen durch die Augen der verschwundenen Kinder sehen.«

Kapitel 3
Mysteriöse Geschichten aus der Stadt der Schornsteine
    Wir waren Maurice in den großen, runden Lesesaal gefolgt. Drei Etagen mit Bücherregalen bedecken die Wände der Bibliothek, darüber spannt sich eine riesige Kuppel, die noch größer ist als jene des Petersdoms in Rom. Zwanzig gusseiserne Säulen tragen das Dach mit den zwanzig großen Bogenfenstern.
    Sir Robert Smirke, dem Architekten des Lesesaals, war ein wahres Wunderwerk gelungen.
    »Die Zeitungen sind voll der schlechten Nachrichten.« Maurice Micklewhite knallte einen Stapel Tageszeitungen der letzten Monate vor uns auf den Tisch:
Evening Standard
,
International Herald Tribune
,
Times
,
Guardian
und
Daily Mirror
, nicht zu vergessen die
Sun
. »Die Kinder verschwinden aus allen Teilen Londons«, meinte Maurice ernst. »Und niemand kann sich erklären, was da vorgeht. Dabei sind hier nicht einmal alle Fälle aufgelistet.«
    »Die meisten der Kinder sind sehr jung«, bemerkte ich. Fast jede Ausgabe der verschiedenen Blätter wies eine ähnliche Schlagzeile auf. Es wurden die unterschiedlichsten Worte gebraucht: entführt, verschwunden, unauffindbar, unerklärlich, vermisst, verzweifelt, ratlos.
    »Während meiner Nachforschungen bin ich auf das hier gestoßen«, erklärte uns Maurice Micklewhite und schlug ein großes Notizbuch auf. Emily und ich warfen einen Blick auf das undurchdringliche Gekritzel und die vage erkennbaren Skizzen. Ohne eine Reaktion unsererseits abzuwarten, fuhr er fort: »Auch früher schon kam es zu ähnlichen Vorfällen.«
    »Sie meinen, auch früher schon sind Kinder verschwunden?«
    »In London verschwinden andauernd Menschen«, gab ich zu bedenken.
    »Aber nicht so viele in so kurzen Abständen.« Maurice Micklewhite begann zu erzählen: »Ich habe einige der alten Werke unter den neuen Gesichtspunkten gelesen. Pepys, Chaucer, Petronius. Dabei habe ich Erstaunliches zu Tage befördert. Beginnen wir mit Petronius.«
    »Nie von ihm gehört«, flüsterte Emily.
    »Kinder«, sagte ich.
    »Petronius Arbiter war ein römischer Dichter, der einen Roman mit dem Titel
Satyricon
verfasste und ungnädigerweise zum Selbstmord gezwungen wurde, als man ihn der Verschwörung gegen den Kaiser beschuldigte«, erläuterte Maurice Micklewhite geduldig. »Unter anderem schrieb er auch einige Berichte über die Politik und Geschichte des Römischen Reiches. Als im Jahre dreiundvierzig nach Christus Kaiser Claudius Britannien eroberte, hieß London noch Londinium. Die Stadt entwickelte sich zur blühenden Hafenstadt und Handelsmetropole. Es gab Thermen, eine Basilika und einen Mithrastempel. Petronius berichtet in einer seiner Schriften über ein Ereignis, das als Kinderraub von Britannien die Menschen zum Ende des Jahres achtundfünfzig nach Christus in Angst versetzte. Betroffen waren einheimische wie römische Kinder gleichermaßen. Überall im Gebiet Londiniums verschwanden die Kinder, und kein einziges ward wiedergefunden.«
    »Es gibt keine Erklärung dafür?«, wollte Emily wissen.
    Maurice Micklewhite schüttelte den Kopf. »Aber es kommt noch besser.

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