Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Mondsteinauge wirkte matt, das andere Auge blickte ernst, und man merkte, dass noch ganz andere Gedanken in ihrem Kopf umherschwirrten.
»Junge Dinger«, hörte ich Peggotty sagen, »denken an die Welt und vergessen sie gleichzeitig dabei.«
Peggotty war meine Haushälterin, seitdem ich das Anwesen in Marylebone bezogen hatte. Oft hatte sie mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Und oft hatte sie mit ihren Weisheiten ins Schwarze getroffen.
Besorgt betrachtete ich Emily und fragte mich, woran sie dachte.
Sie sprach wenig, als wir Tower Records und den Virgin Store verließen.
Draußen regnete es.
London empfing uns, wie wir es verlassen hatten.
»Wie waren Sie als Kind?«, fragte sie mit einem Mal.
Überrascht musterte ich sie.
Und sagte es ihr: »Klein.«
Emily nickte.
Wir verstanden uns mittlerweile ganz gut.
Kapitel 15
Maurice Micklewhites Geschichte
Während Emily am Piccadilly den Lichtengel traf, hatte Aurora eine unheimliche Begegnung mit dem, was aus Mylady Hampstead geworden war. Maurice Micklewhite, der sie ins Museum gebeten hatte, weil er mit ihrer Hilfe die Familiengeschichten der beiden Elfenhäuser aufzurollen gedachte, warnte sie eindringlichst vor.
»Die Rättin sieht nicht sehr ansehnlich aus. Wittgenstein bräche das Herz, wenn er seine Mentorin so sähe.«
Aurora nickte folgsam.
Ohne zu wissen, was Maurice Micklewhite meinte.
Denn die alte Rättin besaß kaum mehr Ähnlichkeit mit dem edlen Tier, das sie einst gewesen war. Das Fell war ihr ausgefallen und einer schuppigen Haut gewichen, die an manchen Stellen in zackigen Linien aufgebrochen war, die eitrig nässten. Die dunklen Knopfaugen hatten eine ungesund milchige Farbe angenommen und waren nun beinah geschlitzt, mit einer äußerst schmalen, ovalen Pupille.
»Sie wird sterben«, sagte Maurice Micklewhite.
Der Elf hatte die Rättin in einen Käfig gesteckt, wo sie inmitten von Sägespänen ruhte.
»Kann man denn gar nichts tun?«
»Nicht das Geringste.«
Voller Mitleid kniete sich das Mädchen neben den Käfig, in dem Mylady Hampstead in der Art der Ratten dalag. Zusammengerollt und stoßweise atmend. Gerade wollte Aurora die Hand ausstrecken, um die alte Rättin zu streicheln, da fauchte diese sie wütend an. Eine Reihe neuer, spitzer Zähne blitzte auf.
»Sie ist jetzt nicht mehr die Mylady Hampstead, die Sie kennen gelernt haben«, erklärte Maurice Micklewhite, der hinter Aurora getreten war und ihr eine Hand auf die Schulter legte. Sachte zog er das Mädchen vom Käfig weg. »Fassen Sie sie lieber nicht an.«
Erschrocken beobachtete Aurora, wie das Tier sich mit aller Kraft gegen die Gitterstäbe warf und mit den langen Krallen wie tobsüchtig zu scharren begann. Es fauchte, und die milchigen Augen rollten dabei wie wild.
»Was ist nur aus ihr geworden?«
Maurice Micklewhite wandte den Blick von der Rättin ab.
Erinnerte sich der Zeiten, als Mylady feurige Reden im Senat gehalten hatte.
»Das Blut des Rattlings fließt durch ihre Adern«, stellte er nüchtern fest.
»Passiert das mit jedem, der von einem Rattling gebissen wird?«
»Ich weiß es nicht.«
So einfach war das.
Niemand wusste Genaues.
Dass Mylady Hampstead sich in eines dieser Wesen aus den unteren Schichten verwandelte und dass diese Verwandlung beinahe abgeschlossen war, stand jedenfalls außer Frage.
»Wenn es stimmt, was man so sagt«, meinte der Elf, »dann wird der Nyx bald all das sehen, was auch Mylady sieht.« Nur stockend brachte Maurice Micklewhite die alte Anrede der Rättin über die Lippen. Es schien nicht mehr angebracht, den Adelstitel zu verwenden bei diesem … Ding.
»Was bedeutet das?«, fragte Aurora bangen Herzens.
Des Elfen Miene verfinsterte sich.
»Schlimme Konsequenzen, Miss Fitzrovia.«
Leise war seine Stimme geworden. Traurig. Voll des Bedauerns.
Er seufzte.
Die Rättin oder das Ding, das aus Mylady geworden war, funkelte die beiden Gestalten böse an, die vor dem Käfig standen. Lange Krallen, viel länger noch, als sie es vor zwei Tagen gewesen waren, und auch gekrümmter, kratzten am Gitter entlang.
»Gegen Mitternacht führten wir ein kurzes Gespräch. Dabei fiel es ihr bereits schwer, klare Worte zu formen. Immer wieder wurde sie von einem trockenen Keuchen unterbrochen. Schmerzen hatte sie und Angst, weil sie nicht mehr so empfinden konnte, wie sie es einst tat. Die Augen, die noch nicht so milchig waren, flehten darum, ihrem Leiden ein Ende zu bereiten. Dann war ihr Bewusstsein nach und nach dem
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