Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Träumer befahl dem Weib durch der Engel Stimmen, zu ihrem Mann zurückzukehren, doch als die Engel ihr die Anweisung des Herrn überbrachten, da weigerte sie sich stolz. Hauchte Beschimpfungen, die das Herz des Engels in Wallung versetzten. Der Wille jener Frau war stark. Beinahe so stark wie der Wille des einzigartigen Träumers. Doch wie konnte dies sein? Wie konnte die Schöpfung ebenso stark sein wie der Schöpfer selbst? Den Engeln war es bei Androhung der Verbannung verboten, über derlei Dinge nachzudenken. Denken war überhaupt nicht ihre Angelegenheit, denn Engel waren Diener. Und Diener hinterfragten nicht, was ihr Herr ihnen auftrug.
Doch Lilith tat es.
»Ich verzehrte mich nach ihr«, gestand Rahel und senkte schuldbewusst den Blick.
Er verzehrte sich nach der Stärke dieser Frau. Einer Stärke, wie er sie zuvor nur in Gegenwart des Träumers verspürt hatte. Es war die Stärke des freien Willens gewesen. Zum ersten Mal in seinem Leben war sich Rahel wie ein Gefangener vorgekommen.
Es ist SEIN Befehl, Weib!,
sangen die Engel.
Lilith entgegnete:
Warum sollte ich mich IHM beugen?
Weil ER es befiehlt
, antworteten die Engel.
Und Lilith stellte erneut die Frage:
Warum?
Was die Engel verwirrte.
Denn niemals zuvor hatten sie etwas in Frage gestellt.
Warum?
Auch Rahels Bruder, der damals auf den Namen Semangelof hörte, stellte sich diese Frage zum ersten Mal.
Warum?
Ein einziges Wort nur, doch eines, das die Grundfesten des Himmels erschüttern sollte.
»Semangelof war der frühe Name des Lichtlords«, offenbarte uns der Engel.
Lucifer und Rahel, die Brüder waren, bewunderten die schöne Frau, die am Ufer des Meeres stand und sich ihnen voller Stolz widersetzte. Ihr Wille war stark, und ihr Körper verhieß die Sünde. Beide Engel verliebten sich in die junge Frau.
In ihre Stärke und ihren Mut.
Ihre Entschlossenheit.
Ihre Art zu denken.
»Doch Lucifer«, so Rahel, »liebte sie auf eine Art, auf die wir Engel niemals hätten lieben dürfen.« Nachdenklich ließ der Engel seinen Blick durch den Raum schweifen und verharrte bei einem bläulichen Plakat, das Freddie Mercury zeigte. »Er liebte sie, wie Menschen andere Menschen lieben.«
Lucifer liebte sie des Geistes und des Fleisches wegen.
Er begehrte sie.
Lustvoll.
Und wie sich später zeigen sollte, wurde dieses Begehren erwidert.
Denn auch Liliths Herz – oh ja, sie hatte eines! – war für den Lichtlord entbrannt. Für diesen schönen Engel, der eines Morgens in ihr Leben getreten war. Dessen makelloser Körper in der Sonne geglänzt und dessen Augen lodernde Flammen gesprüht hatten.
»Ich bewunderte sie«, sagte Rahel. »Doch war diese Verehrung ihrer Person nichts verglichen mit den Gefühlen, mit denen Lucifer zu kämpfen hatte. Ich liebte das an ihr, was ich auch in Judi Piper geliebt habe. Ich liebte ihre Liebe zum Leben, denn das war eine Empfindung, die ich selbst niemals zuvor verspürt hatte.«
Doch waren sie zu dritt gewesen.
Drei Engel, von denen nur einer standhaft blieb, und das in Gedanken, Werken und Worten.
Sansenoy.
Der dritte Engel, der sich später Uriel nennen würde, widerstand den Verlockungen des Weibsbildes und missbilligte das Gebaren seiner Brüder. Weder bewunderte er die Schönheit des Körpers der Frau noch den Freigeist, der darin wohnte. Gestreng befolgte Uriel den Befehl seines Schöpfers.
»Er verriet dem Träumer, was geschehen war.«
Und die beiden schwachen Brüder wurden bestraft.
Doch während sich Rahel dem Schicksal fügte, begann der Keim, den Lilith ins Herz des Lichtlords gepflanzt hatte, zu sprießen. Lucifer begann zu grübeln, nachzudenken, zu hinterfragen. Er wurde mit einem Mal einer Ordnung gewahr, mit der er unzufrieden war. Er hörte Befehle, die keinen Sinn ergaben. Wieder und wieder hallte jenes Wort in seinem Bewusstsein. Jenes Wort, das nie ein Engel ausgesprochen hatte. Jenes Wort, das alles ins Wanken brachte, weil Lucifer gewagt hatte, es zu sagen. Nein, gesungen hatte er es!
In der Hochsprache seiner Gattung.
Warum?
»Das Ende der Geschichte kennt Ihr.«
Ich nickte.
Die Revolte im Himmel.
Der Fall Lucifers.
Der London zum Exil erwählte.
»Hier schließt sich also der Kreis«, meinte ich.
Langsam begann ich die Beweggründe des Engels zu verstehen.
»Niemand hat das Recht, Liebende zu trennen«, sagte Rahel entschlossen. »Lycidas und Lilith sollten wieder vereint sein. Uriel hat nicht bedacht, dass ich noch Gefühle für die Lichtlady hegen könnte.
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