Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
animalischen Instinkt gewichen, der nun vollständig Besitz von ihr ergriffen hat.«
Traurig fragte sich Aurora, wie Emily dies auffassen würde.
Ihre Freundin mochte die alte Rättin.
»Und es gibt keine Hilfe?«
»Eine Medizin, meinen Sie?«
»Ja.«
»Ich fürchte, nein.«
Wenn die Rättin sich gegen das Gitter des Käfigs warf, erzitterte die ganze Konstruktion.
»Aber irgendetwas müssen wir doch tun können!«
»Wir können sie töten, wenn es überhand nimmt.« Aurora sah, dass der Elf dies durchaus in Betracht zog.
»Aber sie gehört zu uns!«
»Nein, sie gehört jetzt dem Nyx. Sie ist eine Rattling.«
Das Tier fauchte böse. Speichel troff ihm von der Schnauze.
»Mylady Hampstead«, stellte der Elf fest, »ist heute Nacht gestorben. Die Entscheidung, wie wir mit diesem Ding dort verfahren, obliegt allein uns. Letztlich müssen wir versuchen, ihr einen Rest an Würde zu bewahren.«
Aurora spürte Tränen in den Augen. »Sie wollen sie wirklich töten?«
»Nein.«
Einen Augenblick lang schöpfte das Mädchen neue Hoffnung und versuchte, hinter der aggressiven Kreatur die gutherzige Rättin zu erkennen.
»Es wird Wittgensteins Aufgabe sein, Mylady zu töten.«
Aurora zuckte zusammen.
Maurice Micklewhite trat neben sie und ergriff ihre Hand. »Mein Kind, es ist an uns, die Dinge als das auszusprechen, was sie sind. Viele Menschen fürchten sich davor, die Dinge beim Namen zu nennen. Ich könnte behaupten, dass wir Mylady erlösen. Ihr die Würde bewahren. Sie vor einem unausweichlichen Schicksal retten.« Aurora erkannte die Güte und gleichsam auch die Härte in des Elfen stahlblauen Augen. »Doch ist dies letztlich nichts als Schönrederei«, fuhr er fort und eindringlich stellte er klar: »Er wird sie töten. Wittgenstein wird seine Stiefmutter töten, weil es ihm als Angehöriger des Hauses Hampstead obliegt, dies zu tun. Er wird sie sterben sehen, und ein Teil von ihm wird mit ihr sterben. So will es die Ordnung der Dinge.«
Aurora schwieg.
Wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
»Wir sollten jetzt gehen«, schlug Maurice Micklewhite vor.
Insgeheim wusste Aurora, dass es das Beste war.
Niemand konnte der armen Rättin helfen.
So folgte sie schweren Herzens ihrem Mentor in die Räume der von ihr so geliebten Nationalbibliothek. Still war es dort an diesem Morgen. Immer weniger Leute schienen sich in die geheiligten Hallen zu verirren. Aurora genoss es sichtlich, wieder hier zu sein.
»Wir müssen etwas herausfinden«, begann Maurice Micklewhite. »Etwas aus der Vergangenheit der Metropole.«
»Es hat mit den beiden Häusern zu tun, stimmt’s?«
»Ja, mit den Häusern, ihrer Genealogie und den Morden, die auch in dieser Nacht wieder in der Metropole und dem Westend Londons stattgefunden haben. Lord Nelsons Tauben haben erneut den Golem erspäht, dieses Mal in der Nähe des Hyde Parks, wo ihm zwei Restefresser zum Opfer gefallen sind. Danach ist die Kreatur vom Angesicht der Stadt verschwunden, doch wenn man den Tunnelstreichern, die durch Kensington gewandert sind, Glauben schenken kann, dann ist der Golem dort unten aufgetaucht.«
»Im Gebiet des Totengottes?«
Maurice nickte. »Ja, der Lordkanzler wird nicht erfreut gewesen sein, dass ein Golem in sein Territorium eingedrungen ist. Anubis ist eine in höchstem Maße exzentrische Gottheit, die niemanden neben sich duldet.«
Eine Angewohnheit vieler Götter, dachte Aurora.
»Was haben die beiden Häuser mit dem Auftauchen des Golems zu tun?«
»Das herauszufinden, meine liebe Aurora, wird unsere Aufgabe sein.«
Ihre Schritte wurden von dem dunklen Teppichboden gedämpft. Heftiger Regen prasselte auf die Kuppel und erfüllte den Raum mit einem fernen Rauschen, das sich mit dem Geräusch raschelnden Papiers zu einem beruhigenden Klanggemisch verwob.
Aurora folgte Maurice Micklewhite zu einem Regal, aus dem er drei Bücher hervorzog. Dicke, in schwarzes und rotes Leder gebundene Wälzer waren es, staubig von all der Einsamkeit, die die Bücher im Lauf der vielen Jahre hatten erdulden müssen. Niemand schien sich dafür interessiert zu haben, was zwischen den kunstvoll verzierten und dennoch schlicht gehaltenen Buchdeckeln geschrieben stand.
»Dies sind die Familienchroniken der Häuser Mushroom und Manderley«, erklärte ihr der Elf.
Kunstvoll verzierte Wappen befanden sich auf den Buchdeckeln eingeprägt.
Ehrfürchtig berührte Aurora sie mit dem Finger.
»Wonach suchen wir denn genau?«
»Nach einem Hinweis, einer
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