Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Deswegen, Master Wittgenstein, bin ich der Schlüssel zu Eurem Vorhaben.«
Dem war nichts hinzuzufügen.
»Aber warum wollt Ihr sterben?«
Rahel seufzte leidvoll. »Allzu lange nun wandle ich bereits auf Erden. Die Ewigkeit, das könnt Ihr mir glauben, kann sehr lang sein. Die Zeit ist zäh und fließt nur langsam. Überall ist Vergänglichkeit. Nicht diese romantische Vergänglichkeit, die in Gedichten gepriesen wird. Nein, ich spreche von Fäulnis und Verwesung. Allein die Gedanken überleben. Allein die Erinnerung an die Gedanken und diejenigen, die sie einst gedacht haben. Doch nicht einmal in der Erinnerung will ich weiterleben, weil ich weiß, wie das ist. Habt Ihr eine Ahnung, wie viele Menschen in meiner Erinnerung das ewige Leben erfahren haben? Wie es ist, sich tagtäglich an Gesichter zu erinnern, die selbst die Geschichte vergessen hat? Es ist genug. Judi Piper hat mir gezeigt, wie wundervoll das Leben sein kann. Das Leben und die Liebe. Doch erhält das Leben nicht erst durch die Vergänglichkeit Bedeutung? Was ist das Leben wert, wenn es denn ewig währt?«
Emily starrte den Engel nachdenklich an.
»Ihr seid sehr pessimistisch«, stellte sie fest.
»Und Sie sind ein Waisenkind«, entgegnete Rahel.
»Nicht mehr«, sagte ich schnell, obwohl ich wusste, dass dies nicht wirklich der Wahrheit entsprach.
»Genau!«, log Emily.
»Sie fühlen sich noch immer wie ein Waisenkind, junges Ding«, fuhr Rahel ihr ins Wort. »Und denken Sie nicht, dass sich dies jemals ändern wird. Fragen Sie Ihren Mentor, wenn Sie an meinen Worten zweifeln.«
Ich blickte so unbeteiligt wie nur möglich.
»Ja, fragen Sie Master Wittgenstein. Auch er ist eine Waise gewesen, und das ist er immer noch.«
Ich sah Emily an.
Sie wusste, dass der Engel Recht hatte.
Bloß zugeben wollte sie es nicht.
»Alle Engel sind bestrebt, neue Erfahrungen zu sammeln«, fuhr Rahel fort und wippte im Takt einer imaginären Melodie auf dem wackligen Stuhl. »Zu spüren, wie die Menschheit atmet und pulsiert. Deswegen arbeite ich hier in diesem Virgin Store. Weil diese Arbeit etwas Neues bietet. Neue Erfahrungen. Neue Emotionen. Es ist eine neue Art von Musik, die das Leben zelebriert. Es hilft einem, die Ewigkeit zu ertragen.«
»Ist die Ewigkeit so schlimm?«, fragte Emily.
War es nicht der Wunsch vieler Menschen, ewig zu leben?
»Die Ewigkeit ist die Hölle«, spie Rahel die Worte aus.
Und Emily erinnerte sich.
Die Hölle ist die Wiederholung.
Der ewige Kreislauf.
»Judi Piper hat das Leben gespürt, so wie es einem Engel nie vergönnt sein wird.« Nicht ohne Wehmut sprach er diese Worte. »Sie liebte das Leben um seiner selbst willen. Ich liebte sie dafür. So, wie ich einst Lilith liebte. Denn auch sie hat das Leben gespürt und geliebt. Ich bewunderte und beneidete sie gleichermaßen. Judi und Lilith. Beide waren sich selbst treu geblieben.« Niemals würde er jenes Gefühl erfahren und deshalb wollte er etwas tun – nämlich sterben, doch nicht um seiner selbst willen, sondern für das Glück seines Bruders.
Lycidas sollte seine Freiheit zurückerlangen.
»Vielleicht«, so meinte der Engel, »kann ich so einen Teil der Schuld auf mich laden.«
Denn niemand hatte dem Bruder beigestanden.
Damals, als das Urteil verkündet worden war.
Lycidas und seine Gefährten waren in die Fremde geschickt worden.
»Deswegen werde ich Euch helfen, Lilith zu befreien. Um das Unrecht von einst wieder gutzumachen.«
Erwartungsvoll blickte Rahel mit seinen stahlblauen Augen in die Runde. Aus den Verkaufsräumen, die weiter vorne hinter einem langen Gang voller Gerümpel lagen, drang hämmernde Musik an unsere Ohren. Emily bemerkte, dass die Musik, wenn Rahel gesprochen hatte, gänzlich in den Hintergrund verdrängt worden war.
»Wie gelangen wir dorthin?«, wollte Emily wissen.
»In den Tower?«
»Ja«, meinte ich.
Immerhin hatten die Urieliten die Zugänge zur Hölle versiegelt.
»Ich bin ein Wesen des Lichts«, sagte Rahel, »und kein Bewohner der uralten Metropole. Lucifer fühlte sich wohl in den labyrinthischen Untiefen Londons. Ich bin da anders.«
Es waren eben doch nur Brüder.
»Ihr habt also keine Ahnung, wie wir zu Lilith gelangen können?«
Er schüttelte das Haupt.
»Den Weg müsst Ihr selbst finden.«
Als hätte ich es geahnt.
»Doch werde ich Euch folgen und meine Aufgabe erfüllen.«
Immerhin.
Emily runzelte die Stirn.
Sie schien nicht froher Dinge zu sein, was die vor uns liegenden Ereignisse anging. Ihr
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