Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
knabbern, als ich sie unsanft bei ihrem Mahl gestört hatte.
»Wer sagt mir denn, dass ich Ihnen trauen kann?«
Mit wie vielen Ratten haben Sie bereits schlechte Erfahrungen gemacht?
»Mir fällt keine ein.«
Einmal abgesehen von den Ratten in den Kornspeichern meines Heimatdorfes, die nicht unbedingt zu den am besten gelittenen Tieren gehörten.
Immerhin haben wir uns getroffen
, meinte die Rättin.
Und Sie wissen ja, was man sagt?
»Nein, was sagt man denn?«
Zufälle gibt es nicht
, sagte die Rättin ernst und lächelte.
Von diesem Moment an nahm sie sich meiner an.
Und das Leben änderte sich.
Zufälle gibt es nicht.
Seit damals hatte sich diese Weisheit bewahrheitet.
Denn nichts geschah ohne Grund.
Mylady Hampstead führte mich nach London. In die uralte Metropole. Wo ich in die Unterwelt eingeführt wurde. Ich lernte die geheimen Pfade der Tunnelstreicher kennen und die Plätze, an denen sich die Ratten zu nächtlichen Festmahlen einfanden. Eine Zeit harter Arbeit folgte. England erstrahlte im Zeitalter der Industrialisierung. Fabriken wuchsen aus dem Boden, und Kinder waren gefragte und billige Arbeitskräfte. Ich lernte Demut, indem ich die niedersten Tätigkeiten verrichtete. Zur gleichen Zeit lehrte mich die Rättin das Lesen und Schreiben, was den wenigsten Kindern meiner Schicht ermöglicht wurde. Später dann meldete mich Mylady Hampstead in Salem House an, einer Privatschule, die von dem strengen, aber gerechten Mr. Creakle geleitet wurde. Eine der neuen Hauslehrerinnen war eine gewisse Miss Monflathers, die Literatur und Mathematik unterrichtete.
»Jetzt wissen Sie es«, gestand ich Emily. »Ich war selbst noch ein Schüler, als ich Miss Morgaine Monflathers begegnete.«
»Sie war damals schon Lehrerin?«
»Da staunen Sie, was?«
In der Tat, das tat sie.
»Wie alt ist sie?«
»Ach, fragen Sie doch nicht so viel!«
Emily zog ein Gesicht.
Und gab Ruhe.
Mylady Hampstead gehörte ein Anwesen in Marylebone, in welchem sie mir außerhalb der Schulzeiten zu wohnen erlaubte. Dort befand sich auch die erste Bibliothek, die ich nicht nur betreten, sondern in der ich die Bücher auch anfassen durfte. Anfassen und lesen. Darin blättern und daran riechen. Hunderte Bücher beherbergte das alte Haus, das zu meinem neuen Heim wurde … und, nebenbei bemerkt, das auch heute noch mein Heim ist.
Die Alchemie wurde mein Steckenpferd.
All dies verdanke ich Mylady Hampstead, die mehr war als nur eine Mentorin. Sie war die Mutter, die mich aufnahm, als mich niemand sonst hatte aufnehmen wollen. Sie war es, die mir das wahre Leben schenkte. Die mir die uralte Metropole und die Kunst der Alchemie zeigte.
»Gibt es denn gar keine Möglichkeit, ihr zu helfen?«, fragte Emily entsetzt, als sie vom Kodex der alten Häuser erfuhr.
»Nein.«
Nie zuvor hatte das Kind meine Stimme so zittern gehört.
Seit einer Stunde erst waren wir ins Museum zurückgekehrt. Maurice Micklewhite fanden wir erschöpft in seinem Büro sitzend vor, Miss Fitzrovia ihm gegenüber. Beide einer Grabesstimmung anheim gefallen.
»Es ist deine Pflicht«, hatte mir Maurice Micklewhite unnötigerweise gesagt.
Bevor wir die anderen von den Neuigkeiten, die wir durch den Engel Rahel erfahren hatten, in Kenntnis setzten, ging ich, gefolgt von Emily, ins Nebenzimmer zu Mylady Hampstead und musste entsetzt feststellen, dass der Elf sie in einen Käfig gesperrt hatte, und darüber hinaus, dass diese Maßnahme mehr als notwendig gewesen war. Das Ding, das da hinter den Gitterstäben hockte, hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit der Rättin, die mich all die Jahre über begleitet hatte. Geschlitzte, gelbe Augen funkelten mich wild und böse an, die schuppige Haut glänzte feucht, weil sie eine eitrige Flüssigkeit absonderte. Lange Krallen schabten an den Gitterstäben des Käfigs entlang, und gekrümmte Zähne wurden gefletscht.
»Es ist also ansteckend«, murmelte ich.
»Können wir denn nichts für sie tun?«
Emily wollte die Hand ausstrecken, doch ich hielt sie zurück.
»Sie ist eine Rattling«, sagte ich nur.
Schlagartig wurde Emily die Bedeutung dieser Worte bewusst.
Betreten schwiegen wir.
Betrachteten das sich tobsüchtig gegen die Gitterstäbe werfende Ding.
Sowohl Maurice Micklewhite als auch Miss Fitzrovia waren im Büro verblieben.
»Sie sollten jetzt ebenfalls gehen«, riet ich Emily.
»Warum?«
Ich musste schlucken, bevor ich sagte: »Fragen Sie bitte nicht.«
Emily stand still.
Sagte schließlich mit fester
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