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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Fenster gekrochen kam.
    Die Polizisten hielten Emily fest und befragten sie nach ihrem Namen und den Vorkommnissen. Eine füllige Polizeipsychologin kniete irgendwann neben ihr und redete mit sachlich ruhiger Stimme auf sie ein. Da waren Männer, die lange Plastikbänder um den Unglücksort herum spannten, um die Menge fern zu halten, und Sanitäter, die zu spät kamen, um noch irgendetwas bewirken zu können.
    Aurora Fitzrovia.
    War tot!
    »Aurora!«
    Erneut schrie Emily es hinaus.
    Kreischend und wie von Sinnen.
    Schrie, bis man ihr eine Spritze gab.
    Starke Arme hielten sie fest. Pressten sie zu Boden. Sie spürte, wie sich die lange Nadel in ihren Arm bohrte. Nein, das wollte sie nicht. Auf keinen Fall! Einem Reflex ähnlich sprang sie in den Verstand des jungen Arztes, der fülligen Psychologin, der starken Polizisten. Erstaunlich leicht fiel ihr das. Instinktiv erzeugte sie ein Schwindelgefühl in den Köpfen der Menschen, die sie umgaben. Verwirrung entstand. Menschen fassten sich an die Schläfen, suchten Halt an den Wänden oder Bänken, kippten einfach zur Seite. Der Arzt, der über Emily kniete, verdrehte die Augen, ließ das Mädchen los und sackte in sich zusammen.
    Das war der Moment.
    Emily setzte sich.
    Stand auf.
    Nein, sprang förmlich auf.
    Und obwohl auch sie leichten Schwindel verspürte, rannte sie los. Unter der Absperrung hindurch, zur Rolltreppe, an den Plakaten vorbei, hinauf nach London, an die eisige Luft, die nach Schnee roch. Sie achtete nicht auf die Autos, nicht auf die anderen Passanten. Sie rannte einfach. So schnell die Füße sie trugen. Ihre Beine begannen zu zittern, als die Beruhigungsmittel, die man ihr gespritzt hatte, zu wirken begannen. Nasses Haar klebte ihr im Gesicht. Sie weinte. Keuchend ließ sie den Leicester Square hinter sich und fand sich schließlich in einer schmalen Gasse wieder, wo sie sich erst an einer Hauswand festhielt und dann zu Boden sank. Inmitten eines Haufens stinkenden Unrats, der sich aus den Mülltonnen ergoss, ging das Mädchen kraftlos in die Hocke. Ihr Atem ging langsamer. Ganz schläfrig wurde sie. Das Beruhigungsmittel zeigte seine Wirkung. Nicht einmal mehr die eisige Kälte, die ihr in die Glieder kroch, spürte Emily.
    Das also können Trickster tun, dachte sie. Das, verbesserte sie sich, kann
ich
tun. Fasziniert und erschrocken zugleich. Inständig hoffte sie, niemandem ernsthaften Schaden zugefügt zu haben. Doch ein Teil von ihr war auch stolz auf das, was sie getan hatte. Irgendwie. Sie hatte ihre Trickstergabe benutzt. Es war verwirrend, weil sie es nicht einmal gewollt hatte. Nicht bewusst gewollt. Doch es war das gewesen, was sie hatte tun müssen. Es war der einzige Ausweg gewesen und es hatte tatsächlich funktioniert.
    Die Augen fielen ihr zu.
    Benommen dachte sie die angefangenen Gedanken zu Ende.
    Träumte einen Traum, der keiner war.
    Kälte. Eisig. Schatten. Jemand öffnet eine hohe Tür. Ein großes Zimmer mit einem Kamin. Spielsachen liegen auf dem Boden. Die Welt ist verzerrt und … so groß. Eine strenge Frau steht über ihr. Blickt mürrisch auf sie herab. Du musst keine Angst mehr haben. Sagt die Frau. Ihre Stimme ist kalt. Angst. Vor den schmalen, dunklen Augen. Vor den hochgesteckten Haaren. Vor dem strengen Kleid. Ich habe Angst, sagt sie. Die große Frau sagt: Es ist vorbei. Das Bild verschwimmt. Ein Korridor. Lang. Düster. Schatten allerorten. Tobsüchtige Schreie hallen durch das Haus. Sie hat Angst. Immer noch. Egal, was die große, strenge Frau sagt.
    »Hol dir nich’n Tod«, hörte Emily jemanden sagen.
    Sie schreckte auf.
    »Wenn de so lieg’n bleibst, wirst’n dir hol’n.«
    Emily blinzelte und sah einen stinkenden, in Lumpen gehüllten Mann, der sich über sie beugte. Eine lange, rote Nase lugte zwischen Schal und Ohrenmütze hervor.
    »Kannst mit ’ma komm’n. Kriegste was zwisch’n de Rippen. Un’ bis’jen Wärme obendrein.«
    Emily richtete sich auf.
    Mühsam.
    Alle Knochen taten ihr weh.
    »Was wollen Sie?«, fragte sie den Mann und war sich bewusst, dass dies nicht gerade höflich klang.
    »Da helf’n will ich. Na ja, wollt nachschaun, ob de hin bis’. Wär’s de des gewes’n, dann hätt ich de Mütz genomm’n.« Er tippte an seine eigene Mütze. »Die is nämlich hin. Tja, so issed. D’s Leb’n is hart.« Er wirkte nachdenklich. »Wat mach’s’n du eigentlich hier? Is da nich gut?«
    Emily sah sich um.
    Außer ihnen war keine Menschenseele in der Gasse zu sehen.
    Sie wusste nicht

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