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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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einmal mehr, wie es sie hierher verschlagen hatte. Die blutigen Bilder aus der U-Bahn bestürmten sie aufs Neue. Dazu der Nachgeschmack des Traumes. Ach, Mara, dachte sie benommen und traurig. Und fragte sich, wo sie selbst hingehörte.
    In die uralte Metropole?
    Nach Manderley Manor?
    Oder vielleicht doch nach Hampstead zur Familie Quilp?
    »Wat iss’n jetz’?«
    Mit einem Mal war Emily, als riefe die Stadt nach ihr. Als hörte sie, wie London sie rief.
    Sie gehörte genau hierher. Der Gedanke war rein und klar. London. Mit allem, was dieses Labyrinth beherbergte. Mit den schönen Parks im Sommer und den Restefressern und dem Gestank des Verkehrs und der U-Bahn und der uralten Metropole. All das war Teil ihrer Welt und gleichwohl war sie ein Teil dieser Welt.
    Seltsamerweise erinnerte sie sich eines Liedes.
    London Calling.
    Von …
    The Clash?
    »Ich red midda!«
    Emily betrachtete den Mann argwöhnisch. Besonders alt schien er nicht zu sein. Aber gefährlich. Andererseits sah er vielleicht nur gefährlich aus. Ein Restefresser eben. Bärtig. Dreckig. Stinkend.
    »Ich habe mich ausgeruht«, antwortete Emily.
    London Calling.
    Irgendwie schöpfte sie neuen Mut, weil sie an die Melodie dachte, die so war, wie die Stadt war.
    »Ah, ’n vornehmes Fräulein sin’ wa?«
    Finger mit gelben Nägeln, unter denen schwarzer Dreck klebte, zerrten an Emilys Ärmel.
    »Kommste mit«, forderte der Mann sie auf. »Hinten is’n Hof mit ’ner Tonne.« Als wäre diese Begründung einleuchtender, fügte er hinzu: »Feuer.« Erneut zupfte er das Mädchen am Ärmel.
    »Lassen Sie das!« Emily entzog ihm den Ärmel.
    »Willste kein Feuer?«, fragte der Mann.
    Emily wich einen Schritt zurück.
    Der Mann grinste. Vermutlich sollte dies eine freundliche Geste sein. Gelbschwarze Zähne, zwischen denen die Reste der letzten Mahlzeiten klebten. Fäden braunen Speichels, der nach kaltem, zerkautem Tabak stank und dem Mann auf den Schal troff.
    »Bis’de dir zu fein, um dich mit ma abzugeb’n?«
    London Calling.
    Mit einem Mal wurde sich Emily wieder bewusst, dass sie sich in London befand und man die Straßen der Stadt der Schornsteine am dunklen Fluss nur mit Vorsicht beschreiten durfte. Selbst Reverend Dombey hatte dies den Kindern eingeschärft, bevor er sie zu den Botengängen entlassen hatte. Wenngleich er, das hatten alle gewusst, keineswegs an der Sicherheit der Kinder selbst, sondern eher an der Sicherheit seiner finanziellen Einnahmequellen interessiert war. Verschleppte oder tote Kinder schmälerten den Profit. Nur das zählte für den Reverend.
    Schnellstens verdrängte Emily diese quälende Erinnerung und konzentrierte sich wieder auf den Augenblick. Auf den Mann, der vor ihr stand.
    »Ich muss nach Hause!«
    Emily hatte jetzt Angst.
    Die sie kontrollieren musste.
    »Bist’n hübsches Ding«, sagte der Kerl und kam einen Schritt auf sie zu.
    Vielleicht, so mutmaßte Emily wütend, will er mir doch keinen Platz an einer Feuertonne anbieten. Instinktiv trat sie zurück und stieß dabei gegen eine der Mülltonnen, was wehtat.
    Der Restefresser näherte sich ihr plump. Atem, der nach billigem Fusel roch, schlug Emily ins Gesicht. Und als sich die Finger mit den gelben Nägeln erneut nach dem Mädchen reckten, da schlug Emily zu. Nicht mit den Händen, sondern mit den Gedanken. Ein Schrei ertönte, als der Restefresser sich panisch die Hände vors Gesicht hielt und zur Seite taumelte. Blut rann ihm aus der Nase. Ein Rinnsal nur.
    »Ich habe es getan«, stammelte Emily später.
    Schuldbewusst.
    »Sie haben nur getan, was Sie tun mussten«, hatte ich sie zu beruhigen versucht.
    Wie vorher in der U-Bahn, so hatte Emily es auch dieses Mal nicht tun wollen, nicht bewusst jedenfalls. Es war einfach so geschehen. Sie hatte sich bedrängt gefühlt und sich auf die einzige Art und Weise verteidigt, die ihr möglich gewesen war.
    Ihr war, als blickte die ganze Welt auf dieses schmale Rinnsal Blut, das dem Restefresser aus der Nase lief. Dabei waren sie die einzigen Personen in der verwinkelten Gasse.
    Erschrocken suchte Emily ein zweites Mal an diesem Tag das Weite.
    Plötzlich verspürte sie grenzenlose Furcht. Vor sich selbst. Vor ihrer Fähigkeit. Davor, dass sie nicht einmal wusste, welche Dinge zu tun sie wirklich imstande war.
    So irrte sie erneut durch die Stadt.
    Starrte in fremde Gesichter, die teilnahmslos zurückstarrten.
    Dass sie nach Marylebone musste, stand außer Frage. Nach Hampstead zu den Quilps zu gehen, schien ihr

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