Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
negativen Gefühlen.«
»Doch warum hatte dieser es ausgerechnet auf Miss Laing abgesehen?«, sollte Maurice Micklewhite fragen.
Was kein unberechtigter Einwurf war.
Warum gerade Emily Laing?
Tief unten in der Region, als Emily sich den Blick des Golems zu Eigen gemacht hatte, war ihr kurz ein Gesicht erschienen. Irgendwie war es ihr bekannt vorgekommen, ohne zu wissen, woher. Nur ein blitzlichtartiges Aufflammen war es gewesen; ein Gesicht, das Emily an einen Schauspieler erinnert hatte. Jude Law, der laut Emilys Beschreibung wie Dorian Steerforth aussah. Oder umgekehrt.
Wie auch immer.
Dorian Steerforth hatte etwas mit dem Golem zu tun, und war es nicht unsere Aufgabe, dessen Geheimnis zu lüften? Was also hatte ein Aphrodit in der Region zu suchen? Da davon auszugehen war, dass die Antworten und Erklärungen allesamt Lügen waren, die er Emily und Aurora gegeben hatte, mussten wir dies herausfinden.
»Wenn er etwas mit dem Golem zu tun hat«, mutmaßte Maurice Micklewhite, »und mein Verdacht nicht unbegründet ist, dann muss er ebenso über Kontakte zu Mushroom Manor verfügen.«
Elfen und ihre Theorien!
Immerhin.
»Das College von Whitehall besucht er jedenfalls nicht«, stellte ich fest, nachdem mir Emily mehr von ihm erzählt hatte. Die Studentenverzeichnisse wiesen niemanden dieses Namens auf. »Er ist ein Schwindler.«
Der etwas im Schilde führte.
Doch was?
Emily Laing jedenfalls hatte sich in diesen Schwindler verliebt. Nicht, dass sie eine Wahl gehabt hätte. Aphroditen sind ohne weiteres dazu in der Lage, die Gefühle eines Menschen zu verstärken. Die Wut, die Emily verspürt hatte, war zu einem nicht geringen Teil dem Einfluss Steerforths zu verdanken. Er hatte die aufkeimende Aggression zwischen den Freundinnen geschürt wie ein Feuer, stetig hatte er Brennholz nachgelegt und liebevoll die zart züngelnden Flammen umsorgt. Bis die Flamme dann hell aufloderte und sich der Glanz dieses unseligen Feuers im gesunden Auge des Mädchens brach und sich in ihren Ohren mit den Geräuschen des verzweifelt zum Stillstand kommen wollenden Zuges verband.
»Verliebtheit und Dummheit«, würde Peggotty ihr später einschärfen, »liegen meist viel zu nah beieinander.«
Emily wusste, dass sie einen Verrat begangen hatte. Ihr eigenes Herz hatte sie verraten und, viel schlimmer noch, die Freundschaft des ehemaligen Schokoladenmädchens. Wie seltsam, dass ihr gerade dieser Ausdruck in den Sinn kam, wenn sie an Aurora Fitzrovia denken musste. Aurora, die ihr in so vielen Stunden treu zur Seite gestanden hatte. Die vielen gemeinsam durchlittenen Jahre im Waisenhaus. Die Sticheleien, die beide über sich hatten ergehen lassen müssen und die zu ertragen sie nur vereint in der Lage gewesen waren. Erst jetzt erkannte Emily, dass sie diese Freundschaft verraten hatte. Ja, sie hatte Aurora verraten, doch änderten weder diese späte Einsicht noch die Gefühle von Reue etwas.
Aurora Fitzrovia war tot.
Das war eine unumstößliche Tatsache.
Zwei Polizisten hatten die schreiende und sich aufbäumende Emily Laing festgehalten, weil die Menschen mit dem Finger auf sie gezeigt hatten. Das ist das Mädchen, das das andere Mädchen vor den Zug gestoßen hat. Zumindest hatte es für einige der Passanten so ausgesehen. Dass Emily etwas mit dem Opfer – wie neutral und teilnahmslos dies doch klang – zu tun hatte, stand von Anfang an außer Frage. Unter Schock kniete Emily wie festgefroren am gekachelten Boden inmitten der panisch auseinander stiebenden Menschenmenge auf dem Bahnsteig und schrie sich die Seele aus dem Leib. Dieser Schrei war die einzige Regung, zu der sie fähig war. Ein Schrei, so gellend und lang gezogen und laut, dass er den anderen Passanten einen Schauer über den Rücken jagte; und doch zu leise und kraftlos und abgehackt, als dass er die Wunde im Herzen des Mädchens hätte schließen können. In sich zusammengesackt und unfähig, sich zu erheben, kauerte Emily auf dem Bahnsteig und stützte sich mit beiden Händen ab, während ihr die Tränen über das Gesicht liefen und sie das grinsende Antlitz des Aphroditen, der schon bald verschwunden gewesen war, noch immer vor Augen hatte.
Sie wusste, dass sie eine Schuld auf sich geladen hatte, die sie niemals würde abtragen können. Sie hatte einen Menschen getötet. Nach allem, was sie gemeinsam durchgestanden hatten. Sie hatte Aurora Fitzrovia, die sie immer Emmy genannt hatte, getötet. Die sie des Nachts gehalten hatte, wenn die Furcht durchs
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