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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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fest, wie krank sie aussah.
    Und während das nächtliche London sein Lied sang und flüsternd nach uns rief, folgte Emily Laing den Worten, die sie hinunter in die uralte Metropole trugen, weit hinab in das Labyrinth unter Whitechapel und hinüber zum dunklen Fluss an einen Ort, der von jeher als das Verrätertor bekannt ist.

Kapitel 2
Miss Morgaine Monflathers
    Wir trafen uns in einem Stehcafé in der Goodge Street und stiegen dann hinab in die uralte Metropole, dorthin, wo General Eisenhower während des letzten großen Krieges sein Hauptquartier errichtet hatte. Im Mai 1956 wütete ein Feuer dort unten in einem der ehemaligen Schutztunnel der Underground, und seitdem verirrten sich nur noch wenige Menschen dorthin. Die Northern Line verfügt auf der gesamten Strecke zwischen Belsize Park und Clapham South über Nebentunnel, die parallel zu den Haupttunneln verlaufen und deren ursprüngliche Funktion als Schutztunnel im Laufe der Jahre immer mehr ins Hintertreffen geraten ist. Errichtet wurden sie nicht zuletzt, um den Londonern Zuflucht vor den Bombenangriffen während des Blitzkrieges zu gewähren, immer mit dem Hintergedanken, in den Tunneln irgendwann einmal eine eigene Expresslinie zu errichten. Unnötig zu erwähnen, dass es dazu nie gekommen ist. Stattdessen dienen sie heute den Wanderern und Streichern in der uralten Metropole als Abkürzungen und Pfade, die zu versteckten und seit Jahrzehnten in Vergessenheit geratenen Sidings führen.
    Dorthin begaben wir uns an jenem Tag.
    Direkt hinab ins Herz der Finsternis.
    Miss Monflathers, die ihr graues Haar hochgesteckt hatte und deren grüne Augen unternehmungslustig und wachsam funkelten, kannte sich hier bestens aus. Hier und, was für unsere Belange noch wichtiger war, in den Schichten unterhalb der alten Schutztunnel. Dies war immerhin der Ort, den wir aufzusuchen gedachten. Denn wie Miss Monflathers uns mitgeteilt hatte, war die einzige Möglichkeit, in den Tower zu gelangen, die alten Höllenpfade zu beschreiten.
    »Die Engel«, hatte sie uns erklärt – und Rahel hatte ihr beigepflichtet –, »haben die Eingänge zum Tower von London versperrt. Wachen sind dort unten postiert, und es erscheint mir wenig ratsam, den oberirdischen Weg zu wählen.« Mit einem Blick auf den Engel hatte sie hinzugefügt: »Etwas ist dort unten geschehen in den letzten Monaten. Es scheint, als habe sich der gesamten Festungsanlage tiefster Schlaf bemächtigt.«
    Rahel hatte sie nur angesehen.
    Jedoch nichts erwidert.
    Miss Monflathers, die mit der geschwätzigen Art der Engel vertraut war, nahm dies stoisch hin.
    »Lasst uns also keine Zeit verlieren«, drängelte sie.
    Schon als Lehrerin war sie keine Freundin unnützer Worte gewesen.
    »Bringt, was immer ihr zu sagen habt, auf den Punkt!«, hatte sie uns befohlen, damals in Salem House. »Die Zeit ist zu kostbar, um sie mit Plattitüden zu vergeuden. Seid effizient, und wenn ihr etwas nicht wisst, dann gebt es zu. Versucht gar nicht erst, euer Unwissen zu verstecken. Denn wenn ich euch auf die Schliche komme, und glaubt mir, das werde ich, dann erhaltet ihr eine Strafe, die euch den gleichen Fehler, auch das verspreche ich euch, nie wieder machen lässt.«
    So hatte ich sie in Erinnerung behalten.
    Als strenge, hoch gewachsene Person mit bereits früh ergrautem Haar. Ein hageres Gesicht mit hohen Wangenknochen und einer markanten Nase, funkelnden Augen und abfällig herabgezogenen Mundwinkeln, die fortwährend Ungeduld erkennen ließen. Alt war sie. Schon gewesen, als Londinium noch jung gewesen war. Was genau sie war, hatte niemals jemand erfahren.
    Sie war einfach nur Miss Monflathers.
    Punktum.
    »Ich bin, und das sollte ich vorab bemerken, eine überaus gerechte Lehrerin.« So hatte sie sich uns damals vorgestellt. »Ich verspreche euch, keinerlei Unterschiede zwischen meinen Schutzbefohlenen zu machen. Weder nach geistiger Fähigkeit noch nach dem Stand. Denn, das solltet ihr wissen, allesamt seid ihr mir gleichgültig.« Und nach einer sorgfältig gewählten Pause hatte sie hinzugefügt: »Sozusagen.« Und süffisant gelächelt.
    Erwähnte ich, dass sie eine äußerst humorvolle Person war?
    Wie auch immer …
    Kaum einer ihrer neuen Schüler hatte verstanden, was sie uns mit diesen Bemerkungen hatte sagen wollen. Erschrockene Blicke waren unsicher und heimlich gewechselt worden. Missmutig und eiligen Schrittes war die in Schwarz gekleidete Lehrerin die Reihen entlanggegangen und hatte jeden Schüler mit stechenden

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