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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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glänzend bedeckte. Dann zog er behände eine hölzerne Flöte aus dem Gewand und begann leise zu spielen. Er tanzte beschwingt durch das Dorf und spielte eine sonderbare Melodie.«
    »Was wohl funktionierte«, bemerkte Maurice Micklewhite, dem die Geschichte irgendwie bekannt vorkam.
    Miss Monflathers warf ihm einen strafenden Blick zu, den ich als ehemaliger Schüler nur zu gut zu deuten wusste.
    Sie mochte keine Unterbrechungen.
    »In der Tat. Die Skorpione kamen aus allen Löchern gekrochen. Blind folgten sie dem Fremden ohne Namen bis hin zu jener Mulde im Sand, wo sie sich versammelten, wo tausende und abertausende sich windender Leiber übereinander wuselten und im gleißenden Sonnenlicht glänzten. Der Fremde ohne Namen bestreute die Skorpione mit jenem schwarzen Pulver, lächelte zufrieden und hielt den Stab mit dem durchsichtigen Stein in die Sonne, deren Licht sich in dem Stein brach und das schwarze Pulver entzündete. Die Skorpione verendeten in einem Flammenmeer, und das Dorf war von der Plage befreit.«
    »Aber etwas lief schief«, bemerkte ich.
    »Immer noch der alte Pragmatiker, Mortimer?«
    »Fragen Sie nicht.«
    Sie grinste kurz.
    »Die Dorfbewohner«, fuhr sie fort, »waren jedoch keineswegs wohlhabend. Die beiden Kamele, die der Fremde ohne Namen verlangte, konnten sie entbehren. Die Reichtümer hingegen mussten sie ihm verweigern.«
    Zum ersten Mal meldete sich der Engel zu Wort: »Weil sie keine Reichtümer besaßen …«
    »… wurden sie bestraft«, beendete ich den Satz.
    »Darüber steht nichts geschrieben. Ihr alle wisst, wie Geschichten dieser Art enden. Man umgibt den Fremden ohne Namen mit einer Aura des Mysteriösen, und dies versucht man zu erreichen, indem man die Dorfbewohner als untadelig beschreibt.«
    »Das meinte ich.«
    »Gehen wir davon aus, dass sie keine Reichtümer besaßen. Hätten sie aber welche besessen und sich bloß geweigert, diese dem Fremden ohne Namen zu überantworten, würde das am Ende der Geschichte nichts ändern. Zwar würde es ein anderes Licht auf die Dorfbewohner werfen, und die moralische Schlussfolgerung wäre eine andere – doch ist es die Reaktion des Fremden ohne Namen, der unser Augenmerk gilt.«
    Nun denn.
    »Es gab keine Entlohnung für den Skorpiontöter, und so spielte der Fremde ohne Namen erneut auf seiner hölzernen Flöte. Die Melodie, die er spielte, ließ die Dorfbewohner in tiefen Schlaf fallen. Nur die Kinder blieben wach. Ihre Füße begannen zu wippen, und schließlich schlurften sie barfuß durch den Wüstensand, dem Fremden ohne Namen hinterher, der sie in die Weiten der Libyschen Wüste führte.«
    Maurice Micklewhite mutmaßte: »Niemals wieder wurden jene Kinder gesehen.«
    »Du sagst es, Maurice.«
    »Woher haben die Dorfbewohner dann gewusst, dass die Kinder in die Wüste geführt worden sind?«, fragte der Engel.
    »Ein junges Mädchen, das der Scheich der Oase von den Kattara-Beduinen gekauft und das sich als äußerst ungeschickt und faul erwiesen hatte, war zurückgeblieben. Man hatte das Mädchen an einem Pflock am Rande der Oase angekettet, damit die glühende Mittagssonne es gebührend züchtige. Ganz aufgescheuert waren die Fußgelenke der Sklavin, als man sie fand. So sehr hatte auch sie versucht, den Flötentönen zu folgen. Sie war es, die den Dorfbewohnern davon berichtet hatte, wie der Fremde ohne Namen die Kinder in die Wüste geführt hatte.«
    Wir erreichten ein Gitter aus dünnem Draht, das uns den Weg versperrte und das wir mit vereinten Kräften beseitigen mussten.
    Dahinter begann eine Abzweigung, die uns in einen Teil des Labyrinths führte, der höhlenartiger war als der Schutztunnel. Hier fand der Übergang in die eigentliche Metropole statt. Schwarzes Gestein, grob behauen und mit massiven, hölzernen Stützbalken versehen, bildete die Wände des Weges, den zu beschreiten wir uns anschickten.
    »Nicht mehr lange«, stellte Miss Monflathers fest, »und wir haben das Verrätertor erreicht.«
    Dinsdale stimmte ihr summend zu.
    Und begann uns den Weg zu leuchten.
    Doch zurück zur Geschichte.
    »Es blieb jedoch nicht bei diesem einen Vorfall«, erklärte sie uns. »Einige Jahrhunderte später trug sich ein ähnlicher Fall zu. Dieses Mal in Frankreich. In einem kleinen Dorf namens St. Cérilly, gelegen im Nivernais.« Kurz blieb sie stehen und lauschte in die Dunkelheit, die vor uns lag und nur von Dinsdales Glimmen erhellt wurde. Dann fuhr sie fort: »Die Ratten fielen im Frühjahr dort ein. Man hörte sie

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