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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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wankelmütig, meine Mia!«
    Immerhin ahnte Emily nun, woher ihre Leidenschaft für Bücher und Geschichten herrührte. Sie stellte sich ihren Vater als gut aussehenden jungen Mann vor, mit abgetragener Kleidung und einer Mütze, wie sie die Arbeiter in den alten Filmen trugen. Eine Mütze, die sein lockiges, rotes Haar verbarg. Richard Swiveller war bestimmt arm wie eine Kirchenmaus gewesen und dennoch glücklich, weil er die Liebe gefunden hatte und für die Kunst lebte. Was, dachte sich Emily, konnte es Ehrenvolleres geben, als für die Kunst zu leben? Ein Künstler zu sein? An Wahrheit und Schönheit und Freiheit und die wahre Liebe zu glauben? Eben ein richtiger Bohemien zu sein? Selbst wenn die Wahrheit wahrscheinlich nicht ganz so romantisch ausgesehen hatte, half dem Mädchen die Vorstellung doch sehr, aus einer glücklichen Beziehung hervorgegangen zu sein.
    »Swiveller hatte keinen Penny in der Tasche«, grollte Mylady Manderley, »und meiner naiven Tochter schien das nicht das Geringste auszumachen. Herrje, als hätte es nicht genügend Freier von Stand gegeben, die sich um sie gerissen hätten! Aber nein, sie musste sich unbedingt mit diesem Künstler einlassen.«
    Richard Swiveller hatte kein festes Engagement. Er spielte in den Salons und Kneipen des Eastend, wann immer ein Musiker gebraucht wurde. Er lebte in einem kleinen Dachgeschosszimmer, in dem der Regen oft durch die Decke tropfte und es nur wenige Möbelstücke gab. Bett, Stuhl und Tisch. Das Nötigste eben. Zumindest stellte sich Emily die Behausung in der Bidborough Street genau so vor. Als Mia Manderley dann ein Kind erwartete, erhielt er, was beide für eine Schicksalsfügung hielten, eine Anstellung als Cellist und Hausmeister im Almeida-Theater in der Almeida Street. Zumindest für die Winterspielzeit, was fast ein halbes Jahr lang geregelte Einkünfte bedeutete.
    »Mia wollte zu ihm ziehen, in diese vermoderte Dachkammer. Und das in solchen Zeiten.«
    Denn London wurde von fiebrigen Unruhen erfasst. Die Whitechapel-Aufstände bahnten sich an. Jack the Ripper trieb sein Unwesen im Eastend, und es waren Beschuldigungen übelster Art laut geworden. Lord Nicodemus Manderley, den der Senat mit der Aufklärung der Morde beauftragt hatte, wurde ein Opfer des Rippers. Voller Trauer und Hass beschuldigte Mylady Manderley die Familie der Mushrooms, die Drahtzieher bei jenen mysteriösen Ereignissen gewesen zu sein, die schließlich zum Tode ihres Mannes geführt hatten. Maurice Micklewhite und Inspektor Abberline von der Metropolitan stellten den Mörder schließlich. Einen Golem, wie man ihr mitteilte. Geschaffen aus dem Schmutz der Erde und mit einem lasterhaften göttlichen Willen versehen, der dem Lehm Leben eingehaucht hatte. Woher die Kreatur gekommen war und wer sie erschaffen hatte, ließ sich nurmehr mutmaßen. Manderley Manor sprach seine Anschuldigungen öffentlich aus, und als Folge entbrannten blutige Aufstände im Bezirk Whitechapel, die schließlich die gesamte uralte Metropole und London selbst erfassten.
    »In diesen Zeiten trug Mia, dieses dumme Ding, sich mit dem Gedanken, in die Dachkammer in der Bidborough Street zu ziehen.«
    Gebannt lauschte Emily den Worten ihrer Großmutter.
    Folgte ihnen in die Zeit, in der sie noch ungeboren im Leib ihrer Mutter herangewachsen war. Vielleicht hatte ihr Vater zärtlich die Hand auf den Bauch ihrer Mutter gelegt und sachte gespürt, wie Emily um sich getreten und im Mutterleib gedreht hatte. Vielleicht hatten beide Eltern freudig gelächelt und sich glücklich geküsst, weil sie es kaum erwarten konnten, ihr Kind in den Armen zu halten. Vielleicht war es eine richtige Familie gewesen, in die Emily hätte hineingeboren werden können. Ganz warm wurde dem Mädchen ums Herz, wenn es daran dachte, was alles hätte sein können. Und es fröstelte sie, wenn ihr bewusst wurde, was wirklich geschehen war.
    »Die Rattenkaste hatte einen Plan, wie das Blutvergießen beendet werden konnte«, erklärte Mylady Manderley.
    Was jetzt kam, war Emily zur Genüge bekannt.
    Die Hochzeit mit Martin Mushroom wurde in die Wege geleitet. Nur ein Erbe, in dessen Adern beider Häuser Blut floss, würde die Fehde beenden können. Es war beschlossene Sache.
    Niemand fragte Mia Manderley, die sich immer stärker von der Mutter distanziert hatte. Nach dem Tod ihres Vaters hatte sie das leere Haus am Regent’s Park nur noch als beängstigend empfunden. Richard Swiveller war von da an ihr Leben gewesen. Ihm hatte sie

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