Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
mit Intelligenz?« Miss Monflathers klang skeptisch.
»Mitnichten! Der Ophar Nyx köderte die Menschen mit Genuss«, stellte Lilith daraufhin klar. »Ja, er verführte sie. Gab ihnen, wonach es ihrem primitiven Geist verlangte. Essen für die Hungrigen, Wein für die Durstigen, Hingabe für die Wollüstigen, Vergeltung für die Rachsüchtigen. Jeder bekam, wonach es ihn verlangte. Doch gibt es nichts ohne einen Preis. Sind erst einmal die Augen geöffnet, so entstehen neue Wünsche. Unzufriedenheit nagte an den Menschen. Missgunst verbreitete sich. Das war der Lohn, den der Nyx für sich in Anspruch nahm. Gierig saugte er all diese Dinge auf. Menschen, die sahen, dass andere Menschen sie an Besitz übertrumpften, mordeten um ihres Vorteiles willen. Aus Neid. Aus Habgier. Die Früchte des Lebensbaumes hatten die Menschen lebendig gemacht. Sie erkannten, was Leben war. Und als ihnen erst bewusst geworden war, dass das Leben kein Paradies war, sondern ein ewiger Kampf, da begannen sie zu kämpfen und hörten auf zu leben.«
»Unnötig zu erwähnen«, warf ich ein, »dass dies dem Träumer nicht besonders gefallen haben kann.«
»Sie sagen es, Wittgenstein«, hatte Mylady Lilith mir zugestimmt. »Der Nyx hatte die Menschen aus dem Paradies vertrieben, indem er ihnen zeigte, dass das Paradies eine Illusion war. Deswegen verbannte der Träumer den Nyx. Warf ihn nieder. Tief in die Erde schmetterte er ihn, auf dass er die Schöpfung nicht weiter behelligte. Schaden hatte der Nyx schon genug angerichtet. Ein Schaden, den der Träumer zu beheben versuchte. Sie alle kennen diese Geschichten. Hagel, Feuersbrünste, Schnee und Eis. Eine Sintflut. Sodom und Gomorrha.«
»Man kann ihm nicht vorwerfen, dass er es nicht versucht hätte«, murmelte Miss Monflathers an dieser Stelle.
»Es half alles nichts«, fuhr Mylady Lilith fort. »Denn noch immer suchte der Nyx die Menschheit heim. Tief in der Erde verborgen, wo sich sein Körper zu etwas Unbeschreiblichem verformt hatte, spann er seine Pläne. Niedriges Getier lauschte seinen Worten und wurde ihm untertan. Dort gab es Kreaturen, die nie das Licht des Tages gesehen hatten. Rattengötter, die in der Erde scharrten und mit scharfen Krallen unentwegt ihre Tunnel nach oben trieben, bis sie schließlich in jene Regionen vordrangen, die von den Menschen als Hölle bezeichnet werden. Von dort aus schwärmten sie aus. Sie waren zu Augen und Ohren des Nyx geworden. An seiner statt verführten sie die Menschen. Heimlich kamen sie aus ihren Löchern gekrochen mit ihren funkelnden Augen und den spitzen Zähnen.«
»Sie wurden eine Plage, und noch heute künden Sagen von ihnen.«
Mylady Lilith stimmte Miss Monflathers zu.
»Nachdem Lycidas in die Verbannung geschickt und ich ihm gefolgt war«, erklärte sie uns, »mussten wir uns auf der Erde behaupten. Wir traten die Herrschaft in der Hölle an, jenem Höhlensystem, das schon seit Urzeiten existiert, und entschieden uns, an diesem Ort hier zu leben. Dort, wo von Beginn an Pairidaezas Stock gestanden hatte. Dort, wo später Londinium und London wachsen sollten. Lycidas war seiner Kräfte beraubt worden. Ich selbst war ein Mensch oder etwas, das einem Menschen sehr nah kam. Wir benötigten ein Elixier, um die Jahrhunderte zu überdauern. Um jung zu bleiben.« Ein kalter Blick streifte uns. »Den Rest der Geschichte kennen Sie. Unschuld, destilliert aus all den Kindern, wurde zu unserem Fluch.« Noch kälter wurde ihr Blick. »Die Hölle wurde unser Refugium. Von dort konnten wir die Fäden ziehen. Lycidas förderte die Menschheit, indem er sie beeinflusste. Wir hatten London zu unserem Domizil auserkoren, eine Metropole, die zum Nabel der Welt wurde. Der Mittelpunkt des Empires.« Sie seufzte. »Nur der Nyx, der wie wir die Macht zu erlangen suchte, stand uns im Weg. Allzeit mussten wir seine Versuche vereiteln, dem erdigen Verlies zu entkommen. Immerfort hörten wir Geschichten aus fernen Ländern, die von Ratten erzählten, deren die Menschen nicht mehr habhaft werden konnten.«
»Es waren keine echten Ratten gewesen«, mutmaßte ich.
Mylady Lilith gab mir Recht. »Sie bezeichnen die Kreaturen, mit denen der Nyx kollaborierte, als Rattlinge. Missgestaltet und boshaft sind sie die Erweiterung seines dunklen Geistes.«
Miss Monflathers’ Geschichten ergaben nun einen Sinn.
Mythen und Märchen hatten also doch einen wahren Kern!
Die Diener des Nyx waren immer schon in die Hölle vorgedrungen, und von dort aus hatten sie Zugang zu
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