Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
einer Vielzahl an Orten auf der Erde erlangt. Als Plagen waren sie der Erde entstiegen und hatten angestrebt, die Macht ihres Herrn zu festigen, indem sie die Menschen zu beherrschen versuchten und Angst schürten, von der sich der Nyx nähren konnte.
»Wir zogen durch die Welt und bekämpften den Nyx an jenen Orten, an denen die Rattlinge und andere ihm dienende Geschöpfe auftauchten. Skorpione. Asseln. Schneckenwürmer. Diese Wesen zu töten bedeutete, dem Nyx die Sinne zu nehmen. Wir erlösten die Menschen von den Plagen, die sie heimgesucht hatten.« Süffisant lächelnd bemerkte sie: »War das nicht selbstlos von uns?«
»Sie beide sind der Rattenfänger gewesen!« Miss Monflathers hatte es geahnt.
Das war der Grund, weswegen manche Sagen von einem Mann und wiederum andere von einer Frau zu berichten wussten. Der Rattenfänger war immer schon zwei Personen gewesen. Zudem war mir eingefallen, konnte Lycidas ebenfalls als Frau in Erscheinung getreten sein.
»Ja, wir sind der Rattenfänger gewesen, und wir haben all die Kinder mit uns genommen. Das war der einzige Lohn, den die Menschheit entrichten musste für den Dienst, den wir ihr erwiesen haben. Kinder für den Wyrm. Dessen Sekret für den Lebensbaum.« Mit einer Stimme, so alt wie die Schuld, die sie auf sich geladen hatte, ergänzte sie: »Die Ewigkeit für den Lichtlord und mich. Der allmächtige Träumer hat es so gewollt. So und nicht anders.«
Was uns zum
Heuwagen
brachte.
Letzten Endes.
Und zu Aurora Fitzrovia. Zu Emily Laing. Zu uns allen, die wir in diese schicksalhaften Fügungen involviert waren. Es gibt keine Zufälle, war Mylady Hampstead niemals zu betonen müde geworden. Wenn dem so war, dann erfuhr alles seine Bestimmung. Dann geschah nichts ohne Grund. Meine schreckliche Kindheit in Schottland und später in der Stadt der Schornsteine, die blutige Fehde der beiden Häuser, Emilys Freundschaft zu Aurora, die auf so schreckliche Weise ein Ende gefunden hatte. Lycidas, der in St. Paul’s gefangen war, weil wir ebenso gegen ihn gearbeitet hatten wie wir jetzt versuchten, ihn zu befreien. Wenn es keine Zufälle gab, dann hatten all die Geschehnisse in unserer Vergangenheit dazu geführt, dass Mylady Lilith und ich uns hier vor dem
Heuwagen
trafen. Dann hatte John Constable den
Heuwagen
malen müssen, damit wir uns in dem Gemälde wiederfinden.
Dann hatte alles nur so geschehen können.
So und niemals anders.
War das möglich?
Hieße das nicht, dass es keinerlei Spielraum gab?
Ich betrachtete Mylady Lilith, die mit im Schoß gefalteten Händen ruhig neben mir saß und das Gemälde betrachtete.
»Lycidas wird bald wieder durch die Straßen Londons schreiten«, versprach sie mir. »Ich werde mich darum kümmern.«
Als hätten sie auf dieses Stichwort gewartet, betraten zwei Gestalten den Ausstellungsraum vierunddreißig. Alte Bekannte sozusagen.
»Mr. Fox und Mr. Wolf kennen Sie bereits.«
Ich zog eine Grimasse.
Schenkte den beiden ein geheucheltes Lächeln.
»Fragen Sie bloß nicht!«
»Wir freuen uns auch«, begann Mr. Fox.
»Sie zu sehen«, vervollständigte Mr. Wolf den Satz seines Gefährten.
»Die beiden werden mich auf meinem Weg nach St. Paul’s begleiten.« Die Lichtlady sah die Jäger dankbar an. »Es sind treue Gefährten gewesen, all die Jahre über.« Dann betrachtete sie erneut das Gemälde an der Wand. »Schon bald wird Lycidas diesen Anblick genießen können. Noch viele Menschen werden den
Heuwagen
bewundern können. Denn der Lichtlord wird es nicht zulassen, dass der Ophar Nyx in der Hölle herrscht.« Schatten zauberten einen Grünschimmer in ihre Augen. »Sie, lieber Wittgenstein, müssen sich indes hinauf nach Kensington begeben. Der Lordkanzler wird Sie erwarten.« Dann erklärte sie mir, wohin mich mein Weg führen würde. »Wenn Ihnen das Glück hold ist, dann werden Sie dort finden, wonach Sie suchen.«
Mr. Fox und Mr. Wolf schwiegen. Standen still da und betrachteten ebenfalls das Gemälde, wenngleich ihre Blicke nicht darauf schließen ließen, dass sich ihnen die Schönheit der Farben offenbarte.
Nun denn.
Zu sagen gab es nichts mehr.
Ich erhob mich und schickte mich zu gehen an. Mylady Lilith indes blieb auf der Bank sitzen. Mit einem Mal war mir, als hätten sich Licht und Schatten in dem Gemälde verändert. Als hätte sich die Lücke, die sich zwischen den Wolken auftat, vergrößert. Als wäre die Welt in dem Gemälde ein wenig heller geworden.
»Eines noch«, sagte sie zum Abschied. Die
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