Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Martin Mushroom von dem Kind erfahren, so wäre die Ehe gelöst und London in erneute Unruhen gestürzt worden. Also schwieg sie diesbezüglich. Jedem Menschen gegenüber, auch ihren Vertrauten. Sie folgte Lucia del Fuego in die uralte Metropole hinab. Bereiste mit ihr die Pfade in der sich immer mehr ausbreitenden U-Bahn. Lernte Earl’s Court und Knightsbridge und Chelsea kennen.
Sie versuchte zu vergessen, was geschehen war.
Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass Richard Swiveller England verlassen habe. Punktum. Mia gab den Ratten die Schuld an alledem. Ihr Kind sei in den Händen sorgsamer Pflegeeltern irgendwo auf der Insel.
»Natürlich hat sie gewusst, dass es Lügen sind.« Hatte Mylady ihre Gedanken erraten können?
Und dennoch hatte Mia Manderley, die den Namen Mushroom nur noch auf dem Papier trug, diese Lügen akzeptiert. Weil sie mit diesen Lügen hatte leben können. Irgendwo in ihrem nicht mehr ganz so kindlichen Verstand konnte Emily die Verzweiflung nachempfinden, die ihre Mutter verspürt haben musste. Sie wusste nicht, wohin man ihr Kind gegeben hatte und was wirklich aus ihrem Geliebten geworden war. Eine tiefe und nicht unbegründete Angst, man könnte beide getötet haben, nagte fortwährend an ihr. So erschuf sich Mia ein eigenes Weltbild. In ihrer Sicht der Dinge lebte Emily glücklich bei den obskuren Pflegeeltern irgendwo in England. Richard Swiveller lebte in den Kolonien und häufte Reichtümer an, die ihn eines Tages nach London zurückbrächten, wo er Rache üben würde an jenen, die seine Familie auf dem Gewissen hatten. Irgendwann begann Mia die Lügen zu glauben, die sie sich selbst zurechtgesponnen hatte.
»Selbst als uns die Nachricht erreichte, Swiveller sei mitsamt der
Shambleau
den Stürmen am Kap der Guten Hoffnung zum Opfer gefallen, hielt Mia an ihren Illusionen fest.«
Die Zeit verging.
Und endlich erwartete Mia ihr zweites Kind.
»Den Mushroom-Erben.« Mylady Manderley sprach den Namen mit bitterster Verachtung aus.
Jahrelang hatte Martin Mushroom vergeblich versucht, einen männlichen Erben zu zeugen. Doch dann brachte Mia ein Mädchen zur Welt. Mara Myrial Mushroom. Unnötig zu erwähnen, dass ihr Gatte wenig erfreut darüber war. Einen männlichen Erben hätte er bevorzugt.
»Er wäre noch weniger erfreut gewesen«, sagte Mylady Manderley, »wenn er gewusst hätte, dass er gar nicht der Vater ist.« Ihr Blick bohrte sich förmlich in das Mädchen.
»Sie haben es gewusst?«
Fassungslos versuchte Emily klar zu sehen.
»Ich? Nein, mein Kind. Nicht einmal meine Tochter hat es gewusst.«
Wie war das möglich?
Mylady genoss die Ratlosigkeit im Gesicht des Mädchens. »Du kannst es dir nicht denken?«
»Nein«, antwortete Emily.
»Dann sollten wir deiner Mutter einen Besuch abstatten«, schlug die alte Frau vor und erhob sich von ihrem Platz am Kamin, stützte sich schwer auf den Gehstock und durchquerte mit langsamen Schritten den Salon. »Folge mir, und du wirst die Antworten bekommen, nach denen du so lange gesucht hast.« Sie warf Emily einen düsteren Blick zu. »Und wenn du die Antworten gefunden hast«, fuhr sie fort, »dann bitte ich dich, dieses Haus zu verlassen und nie wieder zurückzukehren.«
Emily wusste nicht, ob sie erleichtert oder betrübt sein sollte.
Sie beschloss, erst einmal gehorsam zu schweigen.
Und ihrer Großmutter zu folgen.
Draußen in den langen Korridoren war es eisig kalt. Ein kühler Wind wehte Emily ins Gesicht. Aufgeregt schlug ihr das Herz in der Brust. Ihrer Großmutter zufolge würde sie ihre Mutter treffen, doch zugleich beschlich Emily ein ungutes Gefühl, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass Mylady Manderley den Kontakt aus freiem Willen erlauben würde. Die Gerüchte fielen dem Mädchen wieder ein. Maurice Micklewhite hatte ihr gesagt, dass man Mia Manderley seit ihrer Rückkehr in das Anwesen am Regent’s Park nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen hatte. Die Bilder, die Emily von ihrer Schwester empfangen hatte, sprachen zudem eine eigene Sprache. Warum fürchtete sich die kleine Mara vor der eigenen Mutter? Was war mit Mia Manderley geschehen?
Wie eine Antwort auf all diese Fragen hallte mit einem Mal ein gellender Schrei durch die Korridore. Schrill und kreischend, wie der eines Tieres.
Mylady Manderley drehte sich zu dem Mädchen um.
»Da hörst du es.«
»Was war das?«, fragte Emily furchtsam.
Die alte Frau schwieg.
Traurig sah sie aus.
Resigniert.
Erneut erklang das jammervolle Wehklagen. Ein
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