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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Schläfen empor, nisteten sich hinter ihren Augen ein. Ihr fehlendes Auge begann zu schmerzen. Instinktiv schlug Emily die Hände vors Gesicht und zog das Mondsteinauge aus der Augenhöhle.
    »Was hat das Kind?«, fragte Mylady.
    Und Miss Anderson antwortete: »Sie sieht in Mia hinein.«
    Fasziniert beobachteten die beiden Frauen, wie Emily sich mühte, den Geist ihrer Mutter zu verlassen. Was ihr nebenbei bemerkt alles andere als leicht fiel. Fast war ihr, als wollten die Farben sie nicht ziehen lassen, als stecke sie in einem Sumpf fest, der unablässig an ihrem Verstand zog und zerrte und nicht daran dachte, sie loszulassen. Ich schaffe es nicht, dachte sie und spürte Panik in sich aufkommen. Niemals zuvor hatte sie Derartiges verspürt. Die Angst lähmt, erinnerte sie sich und suchte einen Ausweg, den sie nicht fand. Ich muss mich konzentrieren. Ganz fest. Ganz fest. Es gibt immer einen Weg nach draußen. Kein Verstand ist ein Gefängnis, doch vielleicht galt das nicht für Personen, die dem Irrsinn anheim gefallen waren. Sie dachte an Mara, die süße kleine Mara, und plötzlich hatte sie die Pforte gefunden. Jemand schien sie bei der Hand zu nehmen und zu sich zu ziehen. Mara, dachte sie benommen. Mara. Mara. Du bist es. Und glitt in das Bewusstsein ihrer kleinen Schwester hinein, wo die Bilder an Konturen gewannen und langsam, aber stetig schärfer wurden. Ein Zimmer erkannte sie. Eine hohe, spinnwebenbefallene Decke mit Holzvertäfelung, und an der Decke hing ein Mobile. Schiffe schaukelten und drehten sich in der Luft. Dann spürte sie, was Mara ihr mitteilen wollte, und sie verstand. Ja, mit einem Mal verstand sie. Dass Mara den Kontakt gesucht hatte. Mara, die irgendwo in diesem riesigen Haus alleine in ihrem Bettchen lag und sich unsagbar fürchtete, weil jemand bei ihr im Zimmer war. Jemand, vor dem sich ihre Schwester fürchtete. Eine Person, die sich aus den Schatten schälte, die größer wurde und sich über das Bettchen beugte, die lächelte und zuckersüße Worte säuselte, die wie ein Engel aussah, so wunderhübsch, dass Mara schon fast wieder keine Angst mehr hatte, wäre da nicht dieses Gefühl gewesen, dass der Mann, denn das war es, was die Gestalt war, ein junger Mann … das Gefühl, dass dieser Mann falsch war. Das war das Wort, das Mara empfand: Der Mann war falsch. Zwar lächelte er, doch nicht aufrichtig. Er bewegte die Lippen und lächelte, und doch blieben seine Augen leblos. Das Gesicht des jungen Mannes wurde vom Schein der Nachttischlampe klar umrissen.
    Und Emily schrie auf.
    So viele andere Bilder bestürmten sie in diesem Augenblick. Die Hymenopteras und die Hand, die ihr gereicht wurde. Auroras wütendes und gleichzeitig überraschtes Gesicht und die einfahrende U-Bahn am Leicester Square und das Geräusch, als Aurora auf die Gleise geschmettert wurde. Der Ausdruck in dem hübschen Gesicht, als es vom Tod und Leid zu trinken begann und die Narbe verschwand, als sei sie niemals dort gewesen.
    »Steerforth«, murmelte Emily.
    Dann schrie sie die beiden Frauen an. Warnte sie. Beschwor sie, nach Mara zu sehen.
    Sie registrierte kaum, dass Miss Anderson aus der Dachkammer stürmte und nach den anderen Bediensteten rief, dass Mia zu kreischen begann, weil sie spürte, dass etwas Schlimmes geschah, dass Mylady Manderley auf sie zukam, sie an den Schultern packte und unsanft zu schütteln begann. Emily sah durch die Augen ihrer Schwester, wie ihr etwas vors Gesicht gehalten wurde. Etwas, das sie die Augen schließen ließ. Ein weiches Tuch, das nach Chemikalien stank. Süßlich und einlullend. Sie spürte, wie jemand ihren Körper anhob. Den Körper, der nicht ihrer war, sondern der ihrer Schwester. Eine Tür schlug lautstark zu, und dann ließ die kleine Hand los, die Mara ihr gereicht hatte. Kraftlos spürte Emily, wie imaginäre Finger ihrem Zugriff entschlüpften.
    Und sie wusste, was geschehen war.
    Mara hatte losgelassen. Sie hatte das Bewusstsein verloren und war in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen. Steerforth hatte sie mit sich genommen. Emily Laing, die keinen anderen Namen als diesen tragen wollte, sah es dem bleichen Gesicht ihrer Großmutter an. Mylady ahnte, wohin der Aphrodit ihre kleine Schwester bringen würde. Selbst Mia, die sich winselnd auf dem Boden zusammengerollt hatte, schien zu wissen, wohin.
    Steerforth würde Mara nach Mushroom Manor bringen.
    Nach Blackheath.
    Dem Ort, der ihre Mutter in den Wahnsinn getrieben hatte.

Kapitel 8
Wölfe!
    Die U-Bahn

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