Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
hatte. Die er uns hatte überbringen lassen, nachdem er vom Erdboden verschwunden war. Bereits damals hatte ich Verdacht geschöpft, es könne Ungereimtheiten geben zwischen dem, was wir von Lycidas im Tower von London erfahren hatten, und dem, was uns die alte Ratte mitzuteilen versuchte.
Nur ein Erbe würde die beiden Häuser vereinen können,
hatte Seine Lordschaft uns glauben machen wollen, bevor der Lichtlord von den Urieliten verbannt worden war
. Lycidas wusste das. Er trug einer Jägerin auf, Mara zu entführen. Sie sollte dem Kind das Herz aus dem Leib schneiden und es ihm als Beweis für ihre Tat vorlegen. Doch hatte die Jägerin Mitleid mit dem Kind und übergab es dem Waisenhaus in Holborn. Statt des Kindes tötete sie einen Stadtstreicher, der betrunken an den Stufen des Trafalgar Squares kauerte, und überbrachte ihrem Herrn dessen Herz. Lycidas verspeiste das Herz und glaubte die Angelegenheit damit bereinigt.
Emily und Aurora waren zugegen, als Lycidas diese Worte an uns alle richtete. An Maurice Micklewhite und Miss Monflathers und sogar an Dinsdale und die beiden seltsamen Gestalten, die sich Mr. Fox und Mr. Wolf nannten und die, so wie es den Anschein hatte, bestens darüber im Bilde waren, was denn tatsächlich geschehen war.
Damals.
Vor so langer Zeit.
Doch sollte ich der Erzählung nicht vorgreifen. Erst später würden wir auf Maurice Micklewhite treffen, der sich in St. Paul’s auf die Lauer gelegt hatte, um das Treiben unserer Verbündeten zu beobachten, die einst unsere Widersacher gewesen waren. Da die Kathedrale des Nachts für den Publikumsverkehr geschlossen ist, musste der Elf den Weg durch die uralte Metropole wählen, um ins Innere des Doms zu gelangen. Die U-Bahn-Haltestelle St. Paul’s führt zu einer heimlichen Abzweigung, einem gewundenen Schacht, den die British Telecom nutzt, um den Bedarf der Büros in der City nach ISDN-Schaltungen zu befriedigen, und durch den man letzten Endes in die öffentlichen Toiletten im Erdgeschoss der Kathedrale gelangt.
»Es geschah, als Big Ben Mitternacht schlug«, sollte uns Maurice Micklewhite später berichten.
Im Längsschiff der Kathedrale hatte der Elf geduldig darauf gewartet, dass Mylady Lilith endlich einträfe. Kurze Zeit hatte er in der
All Souls Chapel
gekniet und derer gedacht, deren Gebeine hier ruhten. Unten in der Krypta. Menschen, die der Elf einst gekannt hatte und die nichts weiter mehr waren als Spuren der Zeit und Namen in Büchern, die Schulkinder langweilten. Wellington und Nelson. Christopher Wren, der zu Lebzeiten oft davon gesprochen hatte, sein eigenes Grabmal zu entwerfen. Lawrence, den Maurice Micklewhite in Kairo getroffen hatte. Damals, nach den Whitechapel-Aufständen und vor der Carter-Expedition. Manchmal erschienen ihm die Jahre wie Sekunden. Sandkörner, jedes davon ein eigenes Universum enthaltend, rieselten unaufhaltsam durch das Stundenglas, während sich die Welt fortbewegte. Sich immerzu drehend und windend.
»Dann endlich sind sie eingetroffen.«
Sie kamen durch den Haupteingang.
Mit einem tosenden Knarren, das im Dom ein lautes Echo fand, traten sie ein. Mattes Licht fiel von draußen in die Kirche und warf die langen Schatten dreier Personen in den riesigen, hohen Raum. Mr. Fox und Mr. Wolf eskortierten Mylady Lilith, die schön und bleich aussah und sich dessen bewusst war, was sie hier erwartete. Einen langen Mantel trug sie. Die Haare hochgesteckt und unter einer Mütze verborgen. Die hellgrünen Augen nach vorne gerichtet.
Keine Miene verzog sie, als sie den Elfen gewahrte. Nur ein kurzes Nicken als Begrüßung.
Mr. Fox und Mr. Wolf begleiteten sie bis kurz vor den hohen Altar, der aus Marmor und verziertem Eichenholz besteht und Bilder zeigt, die Mylady Lilith an Dinge erinnern mussten, die sie zu vergessen trachtete. Eine Laterne stand einsam vor dem Altar, und in dieser Laterne brannte eine kleine Kerze. Unruhig. Hilflos züngelnd und einen Ausweg suchend aus dem gläsernen Gefängnis.
»Es war ein Symbol!«, erklärte uns Maurice Micklewhite.
Ein Schlüssel.
Mylady Lilith kniete sich vor die Kerze.
Zog die Mütze vom Kopf.
Öffnete ihr Haar, das ihr wallend über die Schultern fiel.
Senkte das Haupt.
Und begann zu singen.
Ein heller, klarer Gesang war es. In einer Sprache, die nicht einmal des Elfen Ohren jemals vernommen hatten. Eine Melodie, die voll Licht und Hoffnung war und der Liebe, die bedingungslose Opfer bringt. Töne, die die Welt vernommen hatte, als sie noch
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