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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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ohne Sünde gewesen war. Niemals hätte Maurice Micklewhite geglaubt, dass jenes Wesen, das so viele Grausamkeiten an den Kindern dieser Welt und zuletzt den Waisenkindern von Rotherhithe verübt hatte, zu Derartigem fähig sein sollte.
    »Sie sang für ihren Geliebten«, sagte uns der Elf. »Sie sang für Lycidas.«
    Nur für ihn.
    Zum Abschied.
    Ihre Worte, die Maurice Micklewhite nicht verstand, klangen rein. Erhebend und traurig zugleich. Bedauernd. Wie Farben, die sanft verschwimmen, wenn sich die Mittagssonne im Wasser bricht. Wie ein Duft, den man ganz leise spürte, wenn man an vergangene Tage denkt. Wie der Wind, der aus der Wüste kommt und die Ufer des Meeres küsst. Salzig und kühl und so verzweifelt, dass selbst die Wellen sich seiner erbarmen müssen.
    Die Flamme in der kleinen Laterne loderte auf.
    Kurz nur.
    Ganz zärtlich berührte Mylady Lilith das Glas.
    Hoch oben, jenseits der Whispering Gallery, wo selbst das leise geflüsterte Geheimnis offenbar wird, heulten die Winde, und inmitten des Schneesturms, dessen eisige Hände die Kuppel zu packen versuchten, erklang ein anderer Gesang. Eine tiefere Stimme, die die Melodie der Lichtlady aufgriff, sich mit ihr verband. Ein Teppich disharmonischer Töne, gewebt aus dem Licht der Dunkelheit, deren Gefangene beider Herzen für immer sein würden.
    Lycidas und Lilith.
    Lichtliebende.
    Sie sangen ihr Lied.
    Füllten die Kathedrale damit.
    Denn miteinander zu sprechen war ihnen nicht erlaubt. Sie schenkten sich Melodien, wie die Engel es einst auf Erden getan hatten, als die Menschen noch zu hören vermocht hatten. Melodien, die so viel mehr zu sagen erlaubten, als Worte es jemals könnten.
    Lilith sang unverzagt.
    Lauter.
    Drängender.
    Voller Verzweiflung.
    Schloss die Augen und umfasste die Laterne, vor der sie kniete, mit beiden Händen. Führte die Laterne vor ihr blasses Gesicht und blickte ins Feuer hinein. Tief in die Flamme, die auch oben in der Laterne von St. Paul’s brannte. In ihres Geliebten Antlitz, dessen Tränen wie Asche zu Boden fielen. Lycidas wusste, was sie zu tun beabsichtigte. Und er weinte um sie. Asche regnete auf Liliths Haupt. Asche, die das Feuer der Laterne hoch oben in die Nacht hinausschrie. Asche und Funken, die das blonde Haar entzündeten. Flammende Bekenntnisse, die nach dem Mantel züngelten.
    Mr. Fox und Mr. Wolf senkten die Blicke.
    Hielten die Hände gefaltet.
    Andächtig, wie in ein uraltes Gebet vertieft.
    Maurice Micklewhite faltete seine Hände ebenfalls.
    Und Mylady Lilith sang ihr Lied.
    Sang, als die lodernden Flammen sie zu verzehren begannen und die Melodie heiß von den gellenden Schmerzensschreien einer Frau durchbrochen wurde, die sich hingab für das, was ihr die Ewigkeit versagt hatte. Ihr Körper sackte zusammen. Lichterloh brannte sie, und als sie sich krümmte und schrie, da sang sie immer noch, denn ihre Schreie waren nun die Melodie. Die Tränenflut aus den einstmals grünen Augen verdampfte in der Hitze der Flammenzungen.
    Und Mylady Lilith zerfiel zu Asche.
    Ein fürchterlicher Gestank erfüllte die Kathedrale.
    Noch immer zeigten Mr. Fox und Mr. Wolf keine Regung.
    Dann wurde Maurice Micklewhite der Gestalt gewahr, die vor der Laterne auf dem Boden kniete. Dort, wo eben noch der verbrannte Leichnam der Lichtlady gelegen hatte. Asche bedeckte den Marmorboden zu ihren Füßen. Und die Gestalt sang. Wie damals, als der Himmel sie verstoßen hatte. Als blutige Engel vom Himmel gefallen waren und Feuer ihrer aller Gedanken verbrannt hatte. Als sich die Träume des Träumers als bittere Lüge herausgestellt hatten. Als Lucifer, wie man ihn gerufen hatte, in die Verbannung geschickt worden war.
    Damals hatte er sein Dasein beklagt.
    Jetzt beklagte er seine Geliebte.
    Lilith, die Schöne vom Roten Meer.
    Die am Strand gestanden hatte mit nackten Füßen und dem Geruch des Meeres im Haar.
    Hoch oben, wo der Sturm wütete, in der Laterne von St. Paul’s, wo Lycidas gefangen gehalten worden war vom Bann Lord Uriels, war das Licht erloschen. Kalt und düster blickte die Laterne unter der Kugel mit dem Kreuz über London hinweg. Es gab keinen Zweifel. Lycidas wusste es. Lilith hatte an seiner statt den Platz dort oben einnehmen wollen. Doch war sie ein Mensch oder ein Wesen, das dem Menschen vor langer Zeit sehr ähnlich gewesen war und nicht die Kraft hatte, den Elementen standzuhalten, die Engel heraufbeschwören.
    Sie war tot.
    Verbrannt.
    Erloschen.
    Auf ewig.
    Nur langsam erhob sich der Lichtlord. Sah

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