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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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sich um.
    Schweigend.
    Später. In der Krypta.
    »Sie hat uns also belogen?«, fragte Emily.
    »Die Rättin?«
    »Ja.«
    »Ich weiß es nicht. Jedenfalls hat Lord Brewster die Wahrheit zu seinen Gunsten gebogen.«
    Neuigkeiten allerorten.
    Dennoch weigerte ich mich zu glauben, dass Mylady Hampstead, der ich all die Jahre lang vertraut hatte, uns belogen hatte. Nimmer! Nimmer hätte die alte Rättin etwas derart Verwerfliches getan. Lord Brewster hingegen schien schon eher mit dem Makel der Zweifelhaftigkeit belegt zu sein.
    Emily übte sich derweil in Schweigen.
    Sie wollte nur noch ihre Ruhe haben.
    Einfach nur schlafen.
    Die Augen schließen.
    Obwohl es keinen Unterschied mehr machte, ob sie die Augen geöffnet hatte oder nicht. Es war so befremdlich, die Welt nur noch hören und nicht mehr sehen zu können. Selbst das Gehen war auf einmal zum Problem geworden. In der eigenen fortwährenden Nacht Schritte tun zu müssen. Sie nahm Geräusche wahr, und es waren diese Geräusche, die ihr ein Bild davon vermittelten, was geschah, als wir alle die Pyramide unter der Royal Albert Hall verließen. Das Schnaufen des Lordkanzlers und die schluchzenden Worte Auroras. Die Geräusche in der uralten Metropole. Das Tropfen des Schmelzwassers in der Kanalisation, das sanfte Heulen der Fallwinde im Tunnel und das ferne Quietschen der Bremsen alter U-Bahn-Züge auf den vergessenen Linien. Gemurmel der Passanten, als wir in die belebten Gegenden unterhalb von Kensington Gardens kamen, nach The Ninth Knight’s Gate, wo Tunnelstreicher und Händler und einige eifrig in Geschäftsgespräche vertiefte Makler aus Brompton einen Teppich aus Tönen und Worten und Geräuschen webten, auf dem Emily Laing sich nun vorsichtig entlangschreitend bewegte. Mit zögerlichen, unsicheren Schritten. Gestützt von ihrer Freundin, deren Geruch sie dicht neben sich wahrnahm. Beruhigend und vertraut.
    »Du bist wieder da!«, war alles, was Emily ihrer Freundin gesagt hatte.
    Und Aurora hatte ebenso kurz geantwortet: »Ja, ich bin wieder da.« Und mit einem Lächeln in der Stimme hinzugefügt: »Bei dir.« Ganz anders wirkte die Stimme, wenn man die Person, die dazugehörte, nicht sehen konnte.
    Wie seltsam dies alles ist, dachte Emily.
    Benommen.
    Furchtsam.
    Denn nicht einmal Schmerzen verspürte sie.
    Und das verwirrte sie am meisten.
    Nur Leere.
    Nachtschwärze.
    Die Angst, einfach umzufallen, weil die nächste Treppenstufe oder die noch so kleine Unebenheit im Boden den wirbelnden Schwindel in der Dunkelheit noch verstärkten, zu einem mächtigen Strudel werden ließen, dem sie sich nicht zu entziehen vermochte.
    Ja, nicht einmal den geringsten Schmerz verspürte sie.
    Und das war das Seltsamste.
    Als Mr. Meeks ihr den Rohrstock ins Auge geschlagen hatte, da hatte sie wenigstens noch Schmerzen verspürt. Heftig. Reißend. Durchbohrend. Dazu die warme Nässe, als Auge und Blut ihr über das Gesicht geronnen waren. Die panische Angst, die sie mit eisiger Klaue umschlossen hatte, weil sie gespürt hatte, dass etwas Unwiderrufliches geschehen war. Da waren die Schreie der anderen gewesen, die in der Küche Zeuge des Unfalls – wollte man den Vorfall denn als solchen bezeichnen – geworden waren. Der hilflose Zorn des Hausmeisters. Die Rufe der Köchin. Alles hatte darauf hingedeutet, dass etwas geschehen war.
    Doch jetzt?
    Spürte sie nichts von alledem.
    Es war einfach so passiert.
    Völlig unspektakulär.
    In demjenigen Augenblick, in dem Aurora durch den Spiegel auf sie zugeschritten war, in dem Emily ihrer Freundin Hand ergriffen und sie auf die andere Seite des Spiegels gezogen hatte, da war alles anders geworden. Die Welt um sie her war verschwunden. Mit einem Mal.
    Seit diesem lähmenden Moment war ihr Augenlicht erloschen.
    Einfach so.
    Sie war blind. Punktum.
    Ohne Vorwarnung.
    Blindheit.
    Ohne Schmerzen.
    Man hatte ihr einfach die Fähigkeit zu sehen genommen.
    Das war alles.
    Es war der Preis, den zu zahlen sie bereit gewesen war. Anubis hatte es so gewollt. Einen Grund dafür hatte er nicht nennen müssen. Er war der Herr der Pyramide, die die Unterwelt oder das Totenreich war – oder was auch immer. Er gebot hier unten und oben in Kensington, und nur das zählte. Es waren seine Regeln gewesen, denen sie sich hatte beugen müssen.
    »Nie wieder werde ich ein Buch lesen können.«
    Von allen Gedanken, die ihr hätten kommen können, war es dieser, der schmerzliche Gestalt angenommen hatte.
    Aurora hatte nichts darauf entgegnet.
    Was hätte

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