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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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sie auch sagen sollen?
    Zu gut kannte sie Emily.
    Und die Erkenntnis war unumstößlich.
    In Stein gemeißelt.
    Niemals wieder würde sie lesen können. Niemals wieder würde sie zwischen den Seiten eines Buches blättern und inmitten der dicht gedruckten Zeilen in die Geschichte eintauchen können. Allenfalls würde sie an den Büchern riechen können, wie sie es so gerne tat. Ein schwacher Trost. In Zukunft würde sie auf Hörbücher und den guten Willen ihrer Freunde und Bekannten angewiesen sein, um neue Geschichten zu erleben. Doch würde dies niemals vergleichbar sein mit dem Gefühl, selbstständig zwischen den Seiten blättern zu können.
    »Nie wieder«, hatte sie gemurmelt. »Nie, nie, nie!«
    Mit einem Mal erinnerte sie sich an das Buch, das zu lesen sie begonnen hatte, bevor die Ereignisse sie hinaus ins winterliche London und hinab in die uralte Metropole getrieben hatten.
    Coraline
.
    Von Neil Gaiman.
    Schon wieder ein Buch, das von einem einsamen Mädchen handelt –»Coraline, nicht Caroline«, die Stelle hatte Emily gut gefallen –, das allein und gelangweilt in einem großen Haus herumstreunt und sich in einer Welt verliert, die ihm fremd und nicht immer freundlich gesinnt ist. Bis zur Mitte des Buches, das nicht einmal ein besonders dicker Roman war, hatte sie vordringen können. Ein Papiertaschentuch steckte dort als Lesezeichen, und das Buch lag hinten in ihrem Rucksack, gleich neben Auroras Schmöker über das Herz der See. Emily erinnerte sich an die Zeichnungen in dem Buch, das ein Kinderbuch sein sollte: karge, schwarzweiße und doch wunderschöne Skizzen von Ratten und Mäusen, so skurril und scherenschnittartig, wie die Welt eben war. Die Welt, so wie Kinder sie sehen. Gierig und jederzeit bereit zuzuschnappen.
    »Du hättest das nicht tun müssen«, hatte Aurora gesagt.
    Emily hatte das Gesicht ihrer Freundin ertastet.
    Unsicher, weil sie Aurora zuvor nie auf diese Art angefasst hatte. Kinn. Lippen. Nase. Augen. Wimpern. Haare. »Ich denke nicht«, hatte sie ganz leise geflüstert, »dass ich eine Wahl hatte.« Und zögerlich hatte sie gefragt, etwas lauter: »Kannst du dich erinnern?«
    »An die U-Bahn?«
    Emily hatte genickt. »Ja.« Und es ausgesprochen: »Daran, dass ich dich gestoßen habe.«
    »Am Leicester Square.«
    Emily musste es aussprechen. Um ihrer selbst willen. »Dass ich dich … getötet habe?«
    Aurora schluckte.
    Schwieg einen Moment lang.
    »Ja, ich erinnere mich. An Steerforth und den Wind, den der Zug verursacht hat. An diesen muffigen, lauwarmen Wind, der immer in den Bahnhof weht, kurz bevor ein Zug einfährt. Er war heftiger gewesen, da vorne am Bahnsteig. Und ich habe gedacht, dass dies doch nicht das Ende sein kann. Ich kann mich an dein Gesicht erinnern. Ach, Emmy. Du hast es sofort bereut.«
    Emily schwieg schuldbewusst.
    »Denn das, was mich da angeschaut hat, das warst nicht du.«
    »Doch!«, hatte Emily beharrt. Schönrederei half auch nichts. »Doch, ich bin es gewesen. Ich, deine Freundin. Ich, Emily Laing aus Rotherhithe. Ich habe es gewollt. Wenn auch nur einen Augenblick lang. Und dann habe ich es getan. Ohne darüber nachzudenken.« Hier war sie in Tränen ausgebrochen. »Mein Gott, du warst tot, Aurora!« Wie seltsam es klang, und doch entsprach es der Wahrheit. Aurora Fitzrovia war tot gewesen, und jetzt war sie es nicht mehr.
    »Es war Steerforth«, hatte Aurora mit fester Stimme betont. »Dieser charmante, eingebildete Steerforth hat dich verhext, Emmy. Glaub mir, du warst das nicht, der mich da angeschrien hat. Der mich … getötet hat.«
    Mit einem Mal fiel Emily auf, wie gut es tat, dass jemand sie Emmy nannte.
    Endlich wieder.
    Emmy. Nicht Emily. Emmy!
    »Ich habe Zeit gehabt, darüber nachzudenken.«
    »Du erinnerst dich?«
    »An die Zeit hier unten?«
    »In der Unterwelt.«
    Eine kurze Pause. »Nein, nicht wirklich. Es ist alles … irgendwie … unscharf. Das, was gewesen ist. Es ist … so weit weg. Da war ein Dorf mit Menschen, die alle ganz verschieden aussahen, aber keiner hat mit mir gesprochen. Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern.« Sie stockte. »Kalt ist es gewesen.« Und ihr Atem ging schneller. »Wie lange bin ich hier gewesen?«
    »Keine zwei Tage.«
    Aurora schwieg.
    Sagte schließlich: »Es kam mir länger vor.«
    »Sie wird sich nicht erinnern«, hörte Emily des Lordkanzlers tiefe Stimme. »Bald wird alles, was sie im Spiegel erlebt hat, ein Traum gewesen sein, den die Sonnenstrahlen mit sich tragen.«
    So viel vom

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