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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Ritters, der uns schließlich die Passage der Brücke gestattete.
    Die Schächte und Tunnel führten uns hinauf nach Hyde Park Corner, wo wir die Piccadilly Line bestiegen, die uns bis nach Holborn brachte, wo wir umsteigen mussten und die Central Line bis Chancery Lane nahmen. Dort verließen wir die U-Bahn und begaben uns durch ein Siding in die uralte Metropole. Folgten einem Tunnel, dessen Wände durchsetzt waren von den Fundamenten der Kathedrale, die sich hoch oben in London erhebt.
    St. Paul’s.
    Der vereinbarte Treffpunkt.
    Inständig hoffte ich, dass Maurice Micklewhite uns dort erwartete.
    »Vielleicht«, dachte Aurora laut nach, als wir den menschenleeren Bahnhof Chancery Lane verlassen hatten, »kannst du ja doch wieder sehen.« Ganz fest hielt sie Emilys Hand. »Ich meine, du bist doch eine Trickster.«
    Überrascht musterte ich das Mädchen.
    Gar keine so dumme Äußerung, dachte ich mir.
    Sagte aber nur: »Interessant.«
    Emily ging unsicheren Schrittes weiter.
    Drehte den Kopf in die Richtung, aus der die Worte an sie gerichtet worden waren.
    »Du könntest durch meine Augen sehen.« Nun hatte Aurora es ausgesprochen.
    »Wäre das möglich?« Emily richtete die Frage an mich.
    »Ja.«
    »Aber müssten wir nicht immerzu zusammen sein«, überlegte Emily, und ihre Stimme ließ unzweifelhaft den zarten Hoffnungsschimmer erkennen, der gerade in der Finsternis aufgetaucht war.
    »Sind wir doch sowieso«, antwortete Aurora.
    Lächelte, obgleich Emily sie nicht zu sehen vermochte.
    »Das würdest du für mich tun?«
    »Warum nicht?«
    »Weil es deine Augen sind«, sagte Emily geschwind.
    »Und«, bemerkte ich, »es nicht sehr angenehm ist, dauernd jemanden im Kopf mit sich herumtragen zu müssen.«
    Aurora warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. »Wir sind Freundinnen!«
    Kinder!
    Als wäre dies die Antwort auf alle Bedenken.
    Nun denn.
    »Versuche es«, forderte Aurora sie auf.
    »Hier?«
    »Ja.«
    »Sofort?«
    Aurora verdrehte die Augen und musste lachen.
    »Nun mach schon!«
    Wir standen allesamt an einer Kreuzung, die ein Knotenpunkt der Strom- und Telefonleitungen der City war. Überall hingen sie aus den gekachelten Wänden, dicke isolierte Bündel roter und gelber Kabel mit Hochspannungssymbolen und dem eckigen Emblem der Stadtwerke. Der Boden war übersät mit Müll. Bierdosen und Verpackungsfolien. Eigentlich kein schöner Ort, um das Augenlicht wiederzuerlangen.
    Doch war dies Emily gleichgültig.
    Mühelos gelangte sie in das Bewusstsein ihrer Freundin. »Es funktioniert«, stellte sie fassungslos fest.
    Dieses Kind!
    »Natürlich funktioniert es«, sagte ich.
    Immerhin hatten wir die Technik monatelang geübt. Bei fremden Passanten hatte es funktioniert, weshalb sollte Emily nun hier versagen?
    »Ich kann dich spüren, Emmy.« Aurora wirkte fassungslos. »In mir drinnen.«
    Seltsamerweise konnte Emily den Gedanken, den Aurora gerade gedacht hatte, lesen oder spüren, oder wie immer man es nennen wollte, noch bevor Aurora die Worte auch nur ausgesprochen hatte. In Aurora zu sein wirkte schrecklich vertraut.
    Emily hielt sich zurück.
    Wie jemand, der in einem fremden Haus zu Gast ist.
    »Kannst du dich sehen?«
    »Meine Güte, ich sehe schrecklich aus.«
    »Ich weiß.«
    Miss Fitzrovia ließ einen zarten Anflug von Humor erkennen.
    Immerhin.
    »Mir ist übel«, gestand Emily.
    »Sie müssen sich erst daran gewöhnen.« Beruhigend redete ich auf sie ein. »Stehen Sie einfach nur still und warten Sie ab. Sie müssen sich erst an diesen verkehrten Blickwinkel gewöhnen.«
    »Sie haben gut reden«, gab sie zur Antwort.
    »Nun ja.«
    Was sollte ich erwidern?
    Das Gefühl, sich selbst dort neben Aurora stehen zu sehen, deren Blickwinkel sie eingenommen hatte, erzeugte einen heftigen Schwindel in Emily. Sie fiel unsanft zur Seite, und Aurora musste sie festhalten. Emily sah, wie sie selbst torkelte und hielt sich – zumindest was den Blickwinkel betraf – sogar selbst fest. Sie versuchte den Kopf in Richtung ihrer Freundin zu drehen. Dorthin, wo sie sie vermutete. Irgendwie.
    »Ich muss mich übergeben, wenn ich das noch länger mache«, gestand sie und ging mit Auroras Hilfe in die Hocke. Wie gut es tat, festen Boden unter den Händen zu spüren. »Außerdem habe ich wahnsinnige Kopfschmerzen.« An den Schläfen hinauf kroch ihr der pochende Schmerz. Nistete sich hinter den Augen und unter der Schädeldecke ein. Trieb ihr Tränen in die Augen.
    »Verlassen Sie Aurora!«
    »Es tut weh.«
    »Sofort!«,

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