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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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sie darin blätterte.
    Und erinnerte sich an jenen Tag, der Jahre zurückzuliegen schien. Bisher hatten die Mädchen fast gar nicht darüber gesprochen. Geflissentlich hatten sie das Thema gemieden. Dabei kam es beiden so vor, als habe es sich erst gestern zugetragen. Emily erinnerte sich nur mehr vage an jenes Gefühl der Verlassenheit. An die Kälte und den Atem, der sich vor ihrem Gesicht zu Nebel verdichtete. An die Tränen, die ihr über das Gesicht gelaufen waren und daran, dass Aurora verzweifelt ihren Namen gerufen hatte. Mitten durch Bloomsbury war sie geflüchtet. Hinunter in die U-Bahn. Leicester Square. Da waren die langen Rolltreppen mit den Kinoplakaten gewesen. Im Odeon am Leicester Square spielten sie einige alte Hitchcock-Streifen. Sie erinnerte sich an den Hass, den sie Aurora gegenüber verspürt hatte. An die Anschuldigungen, die sie ihrer Freundin an den Kopf geworfen hatte. Ausgespien und voll Verachtung waren die Worte gewesen.
    Aurora torkelte auf die Gleise zu.
    Wurde weggerissen vom einfahrenden Zug. Mit einem Geräusch, das noch immer im Kopf des Mädchens ächzte.
    »Es tut mir so Leid«, flüsterte Emily.
    Suchte in der Dunkelheit Auroras Hand.
    »Als du gestorben warst«, fuhr sie fort, ganz leise und zögerlich, »da habe ich an genau dieses Buch gedacht. Zum ersten Mal war mir bewusst, dass es die ganze Zeit über in meinem Rucksack gesteckt hatte. Und dass du dich doch niemals wirklich für Seefahrer interessiert hattest. Und mit einem Mal tatest du es dann doch.«
    Aurora ergriff ihre Hand.
    Sie war ganz weich und warm.
    Und sie zitterte.
    »Emmy!«
    »Ich habe doch Recht, oder?!«
    Aurora schwieg.
    Die Geräusche des Lesesalls waren überall.
    Mit belegter Stimme sagte Aurora schließlich: »Ja.«
    »Little Neil Trent?«
    Auroras Händedruck wurde fester.
    »Ja.«
    Wieder Schweigen.
    »Warum hast du es mir nicht gesagt?«
    »Ich dachte«, begann sie und schaffte es nicht, diesen Satz zu beenden.
    »Du dachtest, dass ich mich in ihn verguckt habe?«
    Stille.
    »Habe ich aber nicht.«
    Noch immer Stille.
    Dann: »Ganz sicher?«
    Emily war, als kehre das alte Lächeln in ihrer Freundin Stimme zurück.
    »Frag nicht!«, gab sie zur Antwort.
    Und Aurora musste lachen.
    Laut und befreit.
    Sodass von allen Seiten dahingeflüsterte Laute der Empörung gezischt wurden.
    Emily stimmte in das Lachen ein, doch dann wurde ihr Lachen zu einem erstickten Schluchzen. Sie musste sich auf die Lippe beißen und hoffte, dass die anderen Besucher der Bibliothek nicht zu großen Anstoß an ihrem Verhalten nahmen. »Es tut mir so Leid«, flüsterte sie, »aber ich habe das alles nicht gewollt.« Sie spürte Auroras Umarmung und ließ sie geschehen. »Als ich dich vor den Zug gestoßen habe«, gestand sie unter Tränen, »da ist etwas in mir gestorben. Es hat sich zumindest so angefühlt.« Es hatte nicht einmal wehgetan. Es war, als zerbräche etwas unendlich Filigranes. »Ich habe geschrien und dann, als sie mir eine Spritze geben wollten, da bin ich gerannt.« Und sie erzählte Aurora von dem Penner, der sie angesprochen hatte. Von dem Blut, das aus seiner Nase geronnen war. Von den Menschen in der U-Bahn, die allesamt von einem heftigen Schwindelgefühl außer Gefecht gesetzt worden waren. »Ich kann all diese Dinge tun, Aurora«, stammelte sie. »Ich kann es tun, und ich habe es getan. Ich habe diesen Menschen wehgetan.« Weil man sie in die Enge getrieben hatte, nur deswegen. »Weil ich schuldig war am Tod meiner besten Freundin. Weil ich dich vor den Zug gestoßen habe und nicht einmal mehr wusste, warum ich es tat.« Weil sie allein hatte sein wollen. Mit Steerforth. Dem trügerisch schönen Dorian Steerforth, der nichts weiter war als der Nocnitsa, ein Aphrodit im Dienste Mushroom Manors. »Und jetzt habe ich dafür bezahlt.« Für ihre Dummheit. Ihren Leichtsinn. Ihren Verrat. Ja, für die Blindheit, die sie so bereitwillig akzeptiert hatte. Nicht mehr sehen zu können war wahrlich kein geringer Preis und doch nicht weniger als angemessen für die Schuld, die sie abzutragen hatte.
    Emily wusste nicht einmal, warum sie sich überhaupt in der Nationalbibliothek aufhielt.
    Wo sie doch nie wieder ein Buch würde lesen können. In der Hand halten, ja. Daran riechen, auch dies. Doch lesen? Nimmer. Unsicheren Schrittes war sie durch die Regalreihen gewandert und hatte sich zu beiden Seiten an dem glatten Holz festgehalten. Es war schrecklich, all die Buchrücken zu spüren, wie sie unter den

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