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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Fingerspitzen entlangglitten, die harten und weichen und rauen und ledrigen und pappartigen und auch die modernen aus glattem Hochglanzpapier. Sich das Buchstabengewimmel im Inneren der Bücher vorzustellen. Geschwungen und elegant, wie sie Worte formten und ineinander verflochten Geschichten erzählten. Wie Emily die Illustrationen in den alten Büchern geliebt hatte. Jene Radierungen, die mehr verbargen, als sie zeigten.
    Niemals wieder.
    Würde sie sehen können.
    Und stellte sich erneut die Frage, warum sie überhaupt in der Nationalbibliothek war. Was hatte sie hergeführt? Warum ausgerechnet dieser riesige Raum voller Bücher?
    Aurora, die ihre Freundin besser kannte, als diese dachte, gab ihr schließlich die Antwort.
    »Weil du hier zu Hause bist.«
    Emily schluckte.
    Konnte es so einfach sein?
    »Du bist dort zu Hause«, sagte Aurora bestimmt, »wo die Bücher sind. Das war schon immer so. Im Waisenhaus warst du immer die Erste, die die Treppe hinunterstürmte, wenn der Wagen der öffentlichen Leihbibliothek aus Southwark vorbeikam. Immer hast du dich mit einem Buch herumgetrieben. Das bist du, Emmy.« Sie hielt kurz inne. »Das alles hier. Dieser riesige Raum, der voll gestopft ist mit Büchern. Das ist die Emily Laing, die ich kenne.«
    War dies die Emily Laing, die Emily sein wollte?
    Das Mädchen, das seine Gesellschaft in Geschichten fand?
    »Nein«, flüsterte sie.
    Aurora wirkte erstaunt.
    »Das hier bin nicht ich.« Nur langsam kamen ihr die Worte über die Lippen. Sorgfältig formulieren wollte sie, was ihr gerade im Kopf herumschwirrte. Dabei galt es erst einmal selbst herauszufinden, was sie überhaupt sagen wollte. »Ich bin anders«, murmelte sie und spürte, dass Aurora an ihren Lippen klebte. Emily suchte nach einem Bild. »Hier drinnen sind so viele Menschen.« Sie seufzte. »Zu viele Menschen. Viel zu viele.« Sie spürte immerzu die Blicke der Fremden, denen sie nicht mehr begegnen konnte, weil sie sie nicht zu sehen vermochte. Deswegen fühlte sie sich hilflos. Wütend. »Ich bin wie der Raritätenladen«, sagte sie schließlich.
    Aurora schwieg.
    Ja, dachte Emily. Das ist es. Das war das Bild, wonach sie gesucht hatte. Das Bild, das sie beschrieb, so wie sie selbst sich sah. Nicht besonders groß und voll gestopft mit Büchern, die sich alt und staubig bis hinauf zur hohen Decke türmen, die aus den Regalen quellen und Häufchen in den Ecken bilden. Ein Raum, wo mattes Licht durch die schmalen, milchigen Fenster fällt und Staubkörnchen tanzen lässt in der Luft, die im Sommer kühl ist. Ein Laden, der nicht viele Kunden hereinlässt. Den nur wenige Menschen zu betreten bereit sind, weil er nicht wie andere Läden ist. Dieser Laden hier war nicht perfekt. Mehr noch, eigentlich war er sogar hässlich. Viele der Regale hatten Macken, und die Eingangstür, an der immer ein Schild baumelte, das irgendwie missmutig die Öffnungszeiten verkündete, hing an lockeren Angeln im Rahmen.
    »Ja, das bist du«, bestätigte Aurora.
    Die verstanden hatte.
    Emily Laing war ein Raritätenladen, in dem es sogar ein Auge, gefertigt aus Mondstein, zu kaufen gab. Sie war ein ganzes Haus voller Bücher. Die Fassade, dachte sie fast schon belustigt, könnte wohl einen neuen Anstrich vertragen. Eine helle Farbe. Eine, die Optimismus und Fröhlichkeit ausstrahlt. Jemand würde die rinnsaligen Regenspuren von den Wänden abwaschen und das klapprige Dach reparieren müssen. Denn hineinregnen sollte es niemals. Wasser und Bücher vertrugen einander nicht. Das hatten die beiden Mentoren den Mädchen gegenüber immer wieder betont.
    Ein Raritätenladen.
    Wenn sie die Bücher aufklappte, dann konnte sie nur mit den Fingerspitzen die Geschichten streicheln, die sie früher fest gepackt und anschließend verschlungen hatte. Ja, sie war ein Haus voller Bücher. Doch leider auch ein Haus, in dem die Bücher das Sprechen verlernt hatten.
    »Kannst du dich daran erinnern?«, fragte sie Aurora.
    »Woran?«
    »An den Moment«, wurde Emily konkreter, »in dem ich dich vor den Zug gestoßen habe.«
    Stille.
    Nur das Knarzen von fernen Schritten auf den Dielen des Bibliotheksbodens.
    »Nicht wirklich.«
    »Hm.«
    »An gar nichts mehr kann ich mich erinnern«, gestand Aurora. »An den Sturz, ja. Es war mit einem Mal ganz kalt geworden. Richtig boshaft und durchtrieben hast du mich angefunkelt. Da war etwas, das dich in seiner Hand hatte. Es ließ von dir ab, als ich auf die Schienen fiel, und bevor ich gegen den Zug prallte, sah

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