Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Ferne unter sich Schreie vernahm. Seltsame Geräusche waren es, die da an sein Ohr drangen. Ein Surren und Stampfen, als wäre die eisige Luft voller Insekten. Dann endlich hatte er den Boden erreicht.
Seine Schuhe fanden festen Halt.
Das, dachte Neil, ist also die Hölle.
Er fragte sich, ob Orpheus ähnlich empfunden hatte, als er zum ersten Mal hier unten war. Oder Master Alighieri, der die ersten Beschreibungen der Hölle angefertigt hatte.
Die Hölle war jedenfalls ein Eispalast, was unschwer zu erkennen war.
Bitterkalt.
Dem Jungen fröstelte auf einmal.
Was nicht nur an der Kälte lag.
Denn da war etwas, das ihm über die Schulter krabbelte. Erschrocken schrie Neil auf und schlug nach dem Ding, das gegen die Felswand prallte und zu Boden fiel, wo er flink mit seinem Schuh darauf trat. Es knackte laut, und eine gallertartige Masse klebte an seiner Sohle. Die langen, zuckenden Beine des Insekts und die schwarzgelbe Färbung passten nur zu einer einzigen Gattung, die Neil jedoch lediglich aus Büchern kannte. Zur Sicherheit trat Neil noch einmal auf das am Boden klebende Ding.
Es war eine Hymenoptera. Zweifelsohne. Schwerfällig war sie gewesen, vermutlich aufgrund der Kälte.
Neben dem noch zuckenden Insekt erkannte Neil eine Reihe von Fußspuren, die im Schnee eingefroren waren. Sie führten in die Richtung, aus der die Schreie kamen. Bevor der Junge einen weiteren Gedanken fassen konnte, schwirrte eine zweite Hymenoptera auf ihn zu. Es gelang Neil, das wütende Insekt durch einen kräftigen Schlag mit der Taschenlampe außer Gefecht zu setzen.
Weitere Hymenopteras gedachte er nicht abzuwarten. Mit etwas Glück hatten diese hier sich nur verirrt und gehörten zu einem Schwarm, der irgendwo anders sein Unwesen trieb.
Dennoch wollte Neil nicht zu lange an einer Stelle verweilen.
Vor ihm beschrieb der Tunnel eine Kurve.
Erneut hallten Schreie von den Eiswänden wider.
Neil rannte los.
Er hörte eine Stimme, die er als die des Alchemisten identifizierte.
Gefolgt von einem Kreischen. »Emmy!«
Neil beschleunigte seine Schritte. Rutschte mehrere Male auf dem glatten Eis aus, das den Boden des Schachts bedeckte.
Als er endlich am Ort des Geschehens ankam, bot sich ihm ein Bild des Grauens.
Ein Golemkrieger hielt Emily fest in seinen Pranken. Das Mädchen zappelte unkoordiniert mit den Beinen und hieb panisch auf den massigen Lehmkörper ein. Aurora und der Tunnelstreicher, der im Raritätenladen aufgetaucht war, befanden sich auf der anderen Seite des Gangs und wurden von zwei weiteren Golemkriegern bedroht. Das Irrlicht schwebte tatenlos an der Höhlendecke. Mit einer Handbewegung, die Neil an eine fernöstliche Kampftechnik erinnerte, allerdings ohne den Gegner zu berühren, schmetterte der Alchemist einen vierten Golemkrieger gegen die Felswand, was der hünenhaften Gestalt jedoch wenig auszumachen schien. Sofort rappelte sie sich wieder auf und ging erneut zum Angriff über.
Niemand schien etwas gegen die Lehmwesen ausrichten zu können. So wie es aussah, spürten sie weder Schmerz noch Furcht. Da sie keine Augen hatten, konnten sie auch nicht geblendet werden. Dinsdale war folglich zur Tatenlosigkeit verdammt, schwebte an der Decke und wartete auf eine Gelegenheit, eingreifen zu können.
Einer der Golems packte Aurora, nachdem er Mièville – Neil erinnerte sich wieder an den exotischen Namen des Tunnelstreichers – gegen die Wand gedrückt hatte, sodass der Mann nach Luft schnappend in die Knie gegangen war. Aurora schrie verzweifelt auf, und der Golem warf sie mit aller Kraft zu Boden, wo sie kurz aufstöhnte und dann reglos liegen blieb.
Wittgenstein, der den Sturz des Mädchens gesehen hatte, stieß den Golem zur Seite.
Er ist ein Trickster, dachte Neil erstaunt. Nur ein Trickster ist zu solchen Dingen fähig.
Vorsichtig, die Aufmerksamkeit der Golemkrieger ja nicht auf sich lenkend, näherte sich der Junge dem Mädchen. Aurora Fitzrovia, die noch immer bewusstlos war, blutete an der Stirn; dort, wo ihr Kopf auf den harten Fels aufgeschlagen war. Der Golem hatte von ihr abgelassen und war nun hinter dem Tunnelstreicher her.
Neil kniete sich neben das Mädchen.
Hob ihren Kopf an.
Strich ihr das Haar aus dem Gesicht.
»Aurora?«
Sie öffnete die Augen.
Langsam.
»Was tust du hier?« Sie blinzelte. Verzog das Gesicht vor Schmerzen.
Neil Trent, der in die Hölle hinabgestiegen war, setzte ein Lächeln auf, das unglaublich lässig wirken sollte, doch letzten Endes nur Erleichterung
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