Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
Vom Netzwerk:
heulten in dieser Nacht die Sirenen. Ein Feuer erhellte den Himmel drüben im Eastend. Etwas ging in London vor, und Neil begann über die Dinge nachzudenken, die Emily ihm erzählt hatte. Aus Büchern hatte er einiges über die uralte Metropole erfahren. Darüber, dass nichts dort unten so war, wie es schien. Dass die Uhren anders tickten als im London darüber. Das war auch der Grund, weshalb der alte Edward nur selten nach unten ging.
    »So viele Jahre habe ich gehabt, viel mehr, als mir zustehen.« Der alte Büchernarr liebte eben geheimnisvolle Äußerungen.
    Neil nahm die Kommentare hin.
    Er wusste, dass der alte Edward, wenn er denn nicht wollte, auch keine Antworten gab. Also hatte es Neil Trent mit der Zeit unterlassen, die Fragen überhaupt erst zu stellen, weil die Antworten, nach denen es ihn verlangte, sowieso nur dann gegeben wurden, wenn Mr. Edward Dickens der Sinn danach stand.
    »Was nun?«
    Eine einsame Frage in der Nacht.
    Noch immer stand Neil vor dem Anwesen in Marylebone.
    Letzten Endes, das wusste er insgeheim, kannte er die Antwort bereits. Es war eine Eigenart der Erwachsenen, immer erst auf eine Bestätigung für ihr Verhalten warten zu wollen. Lernte ein Kind aus diesen Fehlern?
    Ja, er würde hinabsteigen!
    Neil kannte King’s Moan.
    Mehrere Male hatte der alte Edward ihn mit dorthin genommen. Einen Buchladen gab es dort, der sich darauf spezialisiert hatte, halluzinogene Papyri zu vertreiben. Dazu einen Teeladen, in dem der alte Edward bevorzugt einzukaufen pflegte. Neil hatte ihn auf diesen Wanderungen in der Stadt unter der Stadt hin und wieder begleiten dürfen. Nicht zu oft, wohlgemerkt. »Wegen der Zeit!« Doch hatte sich Neil bisher niemals allein in das Labyrinth unterhalb Londons gewagt. Letzten Endes war er nämlich immer noch ein Junge und kein Mann. Ein unerfahrener Junge nur, der jedoch, und das sollte niemand unterschätzen, zu allem entschlossen war. Denn er war ein romantischer Junge, und das Mädchen, das er tot geglaubt hatte, lebte auf einmal wieder und lief durch die Tunnel der uralten Metropole.
    Warum also lange überlegen?
    Und ehe er sich versah, war er auf dem Weg nach unten. Kam sich irgendwie sogar wie ein Held vor.
    Die Piccadilly Line bis nach Hyde Park Corner nahm er, betrat durch das dortige Portal die Stadt unter der Stadt, wie sie von den Alten genannt wurde. Bald schon war er in King’s Moan. Unruhig waren die Menschen hier unten. Unruhiger, als er es in Erinnerung hatte. Rote Gardisten mit mechanischen Hellebarden bewachten die Tunnel, die nach King’s Moan hineinführten, und die Winde, denen die Gegend ihren Namen verdankte, heulten ihr klägliches Lied. Trostlos. Bar aller Hoffnung.
    Jeder ging seines Weges, erledigte eiligst die Geschäfte, die ihn hergeführt hatten, um dann schleunigst wieder zu verschwinden. Nach Hause. In die heimatliche Grafschaft. In Sicherheit.
    Gerüchte wurden geschürt und Geschichten erzählt, Mutmaßungen geäußert und Befürchtungen artikuliert. Überall tuschelte man. Tauschte besorgte Blicke. Lugte in die schattigen Winkel zwischen den Schänken und Läden, als vermutete man dort ein geheimes Übel. Fremde wurden misstrauisch beäugt, denn man konnte nie wissen, wen es hierher verschlug.
    Neil konnte die Verunsicherung und die Furcht der Menschen nahezu schmecken.
    Peggotty hatte ihm genau diesen Ort genannt.
    Chuzzlewitt’s Taverne.
    Nur wenige Wanderer bevölkerten das Gasthaus an diesem Abend. Keiner von ihnen schenkte dem Jungen Beachtung. Gut so. Neil gab sich alle erdenkliche Mühe, möglichst abgeklärt und weltmännisch zu erscheinen. Den wenigen Gestalten, die an den Tischen hockten und in Gespräche und Kartenspiele vertieft waren, wollte er keine Angriffsfläche bieten. Untertauchen wollte er, als einer der ihren gelten. Unauffällig die Dinge erfahren, die ihm am Herzen lagen.
    Also versuchte er sein Glück direkt beim Wirt, einem vollbärtigen Mann mit außergewöhnlich dicken Brillengläsern, durch die er den Jungen neugierig und abschätzig anglotzte. »Wittgenstein, hm? Der Alchemist! Ja, Jungchen, der ist mir bekannt. Hat dort hinten gesessen und seinen Tee getrunken.« Der feiste Mann grinste breit. »Kräutertee aus Northumbria.« Grinste noch breiter und spülte dabei schmutzige Gläser. »Bestellen nicht viele hier unten. Doch er tut’s immer. Ja, immer ist es dieser eine Kräutertee.«
    Neil erkundigte sich nach den Mädchen.
    »Gewiss, sind beide dabei gewesen. Dazu noch ein Tunnelstreicher

Weitere Kostenlose Bücher