Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
ich wieder klar sehen konnte, blieb rational betrachtet eigentlich nur eine einzige Quelle, die ursächlich gewesen sein konnte für das Schauspiel. Die Kinder mit den Spiegelscherbenaugen mussten den Blitz erschaffen haben. Irgendwie. Aber wie?
Emily fiel beinahe um, als der Korridor zu wanken begann.
»Was ist das?«
Nicht die leiseste Ahnung hatte ich.
»Halten Sie sich an mir fest«, schlug ich vor.
Denn das Beben, das den langen Korridor erschütterte, warf uns hin und her. Es war unmöglich, festen Halt zu finden. Ein Gefühl, als drehe sich der Korridor, beschlich mich.
Ergab das einen Sinn?
Konnte die Erde hier unten beben?
»Der Nebel wird dichter.« Wabernd füllte sich der Korridor damit.
Emily nahm es zur Kenntnis.
Konzentrierte sich auf Mara.
Irgendwo in diesem Labyrinth musste ihre Schwester sein. Und irgendwo hier unten musste auch der Nyx stecken, wenn das, was man ihr erzählt hatte, der Wahrheit entsprach. Was die nächste Frage aufwarf, die sie sich bisher nie gestellt hatte. Wie sah er wohl aus, der Nyx? Welche Gestalt hatte jenes Wesen, das, wie alle sagten, dem Träumer so ähnlich gewesen war? Der Träumer, der Lycidas in die Verbannung geschickt hatte. Der mit dem Nyx gefochten und auch ihn unterworfen hatte. Wie, fragte sich das Mädchen, sieht ein Wesen aus, das sich von den Emotionen einer ganzen Stadt ernährt?
Müdigkeit bemächtigte sich ihrer. Die Anstrengungen der vergangenen Tage forderten ihren Tribut ein. Rastlos war sie durch London und die uralte Metropole gewandert. Hatte kaum schlafen und Kräfte sammeln können. Einfach zu viel war geschehen.
Emily strauchelte.
Benommen.
Hielt sich an der Wand des Korridors fest.
»Sie fühlt sich lebendig an.« Eigentlich hatte sie dies nur so dahingesagt. Doch wie so oft klärten die Worte, einmal ausgesprochen, den Geist. Denn das, was sie eben gesagt hatte, entsprach tatsächlich dem, was sie fühlte. »Die Wand«, wiederholte sie laut, »fühlt sich lebendig an.«
Dieses Kind!
»Was verleitet Sie zu dieser Aussage?« Auch ich berührte die Wand und betrachtete die kleinen Äderchen, von denen manche etwas dicker waren und deutlicher hervortraten. Etwas rann durch sie hindurch.
»Sie fühlt sich so an.«
»Lebendig?«
»Ja!«
Mürrisch musterte ich das Mädchen. Es war eindeutig Fels, den ich da spürte. Hart und kalt.
Dann bebte die Erde aufs Neue. Dieses Mal heftiger.
Beide riss es uns von den Füßen.
Die Kinder mit den Spiegelscherbenaugen standen still an ihren Plätzen. Warteten. Doch worauf?
»Da!«
Ich hatte es auch gehört.
»Die Schritte.«
Von mehreren Personen, die sich weiter vorne im Korridor aufhalten mussten.
Dann sah ich den Abdruck. Es war der Abdruck einer Kinderhand. Einer schmutzigen Kinderhand, die rußigen Dreck an der Wand des Korridors hinterlassen hatte. Von Form und Größe her der Hand des Mädchens zu ähnlich, als dass es ein Zufall hätte sein können. Nur etwas stimmte nicht mit diesem Händeabdruck. Etwas Entscheidendes. Etwas, das mich unsere Situation überdenken ließ und einen schrecklichen Verdacht in mir pflanzte, der bald schon erblühen sollte.
Der Abdruck der Hand befand sich unterhalb der Decke. An einer Stelle, die Emily niemals hätte erreichen können, weil sie dafür noch zu klein war. Die Hand schien mich förmlich anzustarren. Es gibt keine Zufälle, dachte ich und kam zu dem Schluss, dass es nur eine Erklärung dafür geben konnte. Emily hatte den Handabdruck an der Wand hinterlassen, und zwar an einer Stelle, die nicht so hoch gewesen war. Alles andere ergab keinen Sinn. Doch war der Abdruck hoch oben unterhalb der Decke. Was nur bedeuten konnte, dass er dorthin gewandert sein musste.
»Was haben Sie?«
Ich trat vor und prüfte die Stelle.
»Zeigen Sie mir Ihre Hand!«
Sie tat es.
»Meine Güte!« Die gleiche Form. Zweifelsohne.
Ich schilderte ihr das, was ich sah.
Der Handabdruck konnte nur dort oben hingelangt sein, wenn sich die Lage der Wand verändert hätte. Doch dies wiederum war nur möglich, wenn der Korridor sich bewegt hätte.
Wenn er sich gedreht hätte.
»Sie meinen«, hakte Emily vorsichtig nach, »dass der Korridor lebt?«
Der Nebel wurde immer dichter.
Sein Geruch stach unangenehm süßlich in die Nase.
»Was wäre denn«, dachte ich laut, »wenn der Nyx kein Wesen ist, das wir hier unten finden werden?«
»Sondern?«
Erneut berührte ich die Wand. Jetzt spürte auch ich jenes Pulsieren, das man in Felsgestein normalerweise nicht
Weitere Kostenlose Bücher