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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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auf sie zukommen würden. All die ergebnislosen Sitzungen des Senats, in denen Maurice Micklewhite das Haus aus Blackheath beschuldigte, Nicodemus Manderley ermordet zu haben. All die Debatten. So sinnlos, so vorhersehbar. Immer wieder hatte sich Mylady in ihr Gemach eingeschlossen und geschrien und getobt. Weil sie unfähig gewesen war, aus ihrem Käfig auszubrechen. Weil sie ihre Tochter dem Feind zur Frau hatte geben müssen. Nur um eines brüchigen Friedens willen. Weil es die Ratten so gewollt hatten. Weil es dem Wohl der uralten Metropole diente. Weil sie die Worte sprechen musste, die der Stadt unter der Stadt die ersehnte Ruhe bringen würden. Wahnsinn, der das Herz zerreißt. So unerbittlich und grausam, wie ein Schicksal je gewesen war.
    »Ich verstehe jetzt«, murmelte Emily.
    Hustete.
    »Was?« Sie war völlig durcheinander. »Was verstehen Sie?«
    Mara hatte die Erinnerungen ihrer Großmutter mit den Geschehnissen vermischt, deren Zeugin sie selbst in Manderley Manor geworden war. Die Schreie ihrer Großmutter wurden zum Toben ihrer Mutter, die man hoch oben in der Dachkammer weggeschlossen hatte. Miss Judith Anderson, die schon damals, vor mehr als hundert Jahren, dem Haus treue Dienste erwiesen hatte, schlich auch heute noch durch die Gänge. Kümmerte sich um die Dienerschaft und sorgte sich um die kleine Mara, die sich trotzdem vor der hoch gewachsenen, dunklen Frau fürchtete.
    »Sie hat mir all dies mitgeteilt.« Noch immer hielt Emily meine Hand. »Und ich habe nichts von alledem verstanden. Träume sind es, dachte ich. Dinge, die ein kleines Kind sieht.«
    Dabei war alles wahr.
    »Kein Wunder, dass sie nicht spricht.«
    Lord Mushroom horchte auf.
    Musterte das Mädchen skeptisch.
    Was immer er denken mochte, er verwarf es wieder. Besann sich des Augenblicks.
    »Der Abgrund«, sinnierte er, und wenn Eisblumen eine Stimme gehabt hätten, dann hätten sie sich genau so angehört. »Der Abgrund ist wirklich tief. So tief, dass noch nie jemand dort unten gewesen ist.« Er lächelte. »Außer dem Nocnitsa. Er kann sich dort unten aufhalten. Er ist dem Nyx sehr ähnlich. Auf seine Weise.« Die grünen Augen verengten sich. »Niemand sonst überlebt den Abstieg.«
    Steerforth ist dort unten, dachte Emily.
    Zusammen mit Mara.
    »Genug des Geredes.« Er gab den beiden Kriegern mit den Stierköpfen ein Zeichen.
    »Alles Leben erlischt dort unten.« Lord Mushroom lächelte.
    Den Moment seines Triumphs auskostend.
    »Zeit zu sterben!«
    Die Andabataekrieger schwangen plötzlich ihre Äxte. Kraftvoll fuhren die Waffen auf uns hernieder.
    Schnell stieß ich Emily zur Seite und sah noch, wie sie dicht neben dem Abgrund Halt fand. Dann duckte ich mich und spürte den Luftzug, den die Klinge der Axt über meinem Kopf erzeugte.
    Wahrlich, dies war keine Zelluloidgeschichte. Nicht einen Augenblick lang hatte der Bösewicht daran gedacht, eine Erklärung seines Tuns abzuliefern. Er hatte das getan, was Bösewichte in der Realität zu tun pflegen. Er hatte gehandelt.
    »Wo sind Sie?«, schrie Emily.
    Ich kniete auf dem Boden.
    Dicht vor dem Abgrund. Wie Emily.
    »Nicht bewegen!«, rief ich ihr zu.
    Und konzentrierte mich auf Lord Mushroom.
    Stieß ihn mit einer kräftigen Handbewegung über die Kante des Abgrunds, wie Mylady Hampstead es mich vor einer Ewigkeit gelehrt hatte. In des Elfen erschrockenen Zügen erkannte ich die Überraschung, als ihn meine Gedanken packten und er die gebündelte Konzentration spürte, mit der er nicht gerechnet hatte. Ich sah das Entsetzen in den grellgrünen Augen, als die Finsternis des Abgrunds ihn verschlang.
    Emily erhob sich.
    Stand auf unsicheren Beinen vor dem Abgrund.
    Lauschte dem lang gezogenen Schrei, der tief unten in der Dunkelheit verebbte. Erneut bestürmte sie eine Bilderflut. Es waren die Erinnerungen Lord Mushrooms, der einen allerletzten Blick auf das Haus seiner Kindheit hatte werfen können, bevor der Abgrund ihn verschlang.
    »Emily!«
    Ein Andabataekrieger stand mit hoch erhobener Axt über ihr.
    Schnell war ich bei ihr.
    Entriss dem Hünen die Waffe.
    Hielt Emily fest.
    Beinahe wäre sie über den Rand des Abgrunds gestürzt.
    »Wittgenstein.«
    Sie fand meine Hand.
    Der zweite Andabataekrieger ließ seinen Morgenstern kreisen.
    Schlug zu.
    Und verfehlte unsere Füße nur knapp.
    Um das Gleichgewicht zu verlieren, reichte es jedoch. Mit den Armen verzweifelt Halt suchend, wurde ich der alten Ratte gewahr, die den Kampf von einem sicheren Platz aus beobachtete.

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