Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
findet. Ich dachte an die blasenähnlichen Gebilde, die mir im Abgrund aufgefallen waren.
»Was wäre, wenn wir den Nyx nicht mehr suchen müssten?«
Den Verdacht auszusprechen, zögerte ich noch.
»Was wäre, wenn wir uns in ihm drin befänden? Wenn wir im Inneren des Nyx wären?«
Emily stockte der Atem. »Was sollen wir jetzt tun?«
Dinsdale schien zum ersten Mal, seitdem wir seine Bekanntschaft gemacht hatten, unruhig zu werden.
»Fragen Sie nicht.« Mein Mund war ganz trocken.
Dann bebte die Erde erneut. Warf uns wie Spielbälle umher.
Dichter Nebel kam auf. Nahm uns in seine Arme.
Beide fielen wir in einen Schlaf, der keiner war. Völlig überraschend.
Träumend.
Und der Nyx kam über uns, so wie wir es niemals für möglich gehalten hätten.
Über uns alle …
Für Emily war es wieder 15:08 Uhr am Bahnhof Leicester Square. Die Northern Line fuhr gerade ein, und mit quälender Langsamkeit stieß das Mädchen Aurora von sich weg, sah sie auf die Gleise zutorkeln, hörte das tosende Brüllen des Zuges, das Quietschen der Bremsen, die Schreie der Passanten. Ihre beste Freundin stürzte, und die Lokomotive erfasste sie, tötete sie im Augenblick eines Schmetterlingsflügelschlags. Und Emily Laing sank zu Boden und schrie sich die Seele aus dem Leib. Sie schrie, weil Aurora Fitzrovia tot war, weil …
… es für Aurora einen Ort gab, den nur sie betreten durfte. Einen Raum in einem Haus, an dessen Geruch sie sich noch erinnern konnte. Eine schmale Treppe hatte in den ersten Stock hinaufgeführt. Dorthin, wo der Raum gewesen war. Dorthin kehrte sie nun zurück. Allein. Sah die Frau, die man im Waisenhaus furchtsam als Madame Snowhitepink kannte. Da war der Mann, der in dem Sessel am Fenster saß. Er lächelte, wie er es auch damals getan hatte. Mit schmalen Lippen, die, wenn sie sich zu einem gewollt gutmütigen Lächeln öffneten, gelbe Zähne zum Vorschein brachten. Aurora weinte, wie sie es damals getan hatte, denn es passierte genau so, wie es damals passiert war. Madame Snowhitepink ließ sie mit dem Mann im Raum allein, und der Mann lächelte, und Aurora Fitzrovia war so voller Furcht, man könne sie bestrafen, dass sie stumm blieb und über sich ergehen ließ, was von ihr erwartet wurde. Tränen liefen ihr übers Gesicht und …
… Neil hörte sie neben sich weinen, und doch waren die Tränen die seinen, denn er stand an Bord der
Ismael
, die er natürlich niemals in seinem Leben betreten hatte. Hoch oben am Hauptmast baumelte der Leichnam seines Vaters, der aussah wie eine grobkörnige, schwarzweiße Photographie aus der
Times
. Er öffnete die Augen und sah seinen Jungen an. Neil, der weder seinen Vater noch seine Mutter gekannt hatte, der von seinem Ziehvater, dem alten Edward, von dem Unglück, das seine Familie einst heimsuchte, erfahren hatte, musste in seinen Träumen so oft dorthin zurückkehren. Zu dem Bild, das ihm den Mann zeigte, dessen Gesichtszüge die seinen waren. Der sich das Leben genommen hatte, damit seiner Familie ein kümmerlicher Rest des Geldes bliebe, das sie einstmals besessen hatte. Trotzdem hatte man ihn fortgegeben. Ausgesetzt. Deshalb stand er allein an Bord des Schiffes. Deshalb war da nur der Leichnam seines Vaters, der zu ihm sprach und …
… etwas schrie, das ich nicht verstand. Über mir, hinter dem Eis, liefen die Kinder aufgeregt umher, schlugen mit Gegenständen auf das Eis, damit es brechen würde, und konnten doch nichts ausrichten. Die Gliedmaßen wurden mir steif in dem eisig kalten Wasser, und ich schaffte es nicht länger, die Luft anzuhalten. Winzige Luftblasen entkamen meinem Mund und trieben über meinem Gesicht unter der Eisfläche entlang. Dann schrie ich und mit einem Mal entwich mir alle Luft aus den Lungen. Ich sah den Jungen, der ich einst gewesen war, über mir, auf der anderen Seite des Eises stehen, das viel zu dick war, um von kleinen Kindern zerbrochen zu werden, denn zu lange schon war der See zugefroren. Während ich starb, blickte ich in die Augen des jungen Mortimer Wittgenstein, der weder von seiner Begabung noch von der Ratte noch von der Stadt der Schornsteine wusste. Die Hände waren dem Jungen gebunden, und so sehr er auch helfen wollte, war er doch zum Scheitern verurteilt. Seine kleinen Fäuste trommelten gegen das Eis, und die verzweifelten Augen folgten den Luftblasen, die unter dem Eis und vor meinem Gesicht den letzten Tanz für diesen Winter tanzten, denn …
… er war ein Mann, dem eines der großen elfischen
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