Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Zufrieden blinzelten die schwarzen Knopfaugen. Denn unser Schicksal war besiegelt.
Emily schrie panisch auf, als sie den Halt verlor.
Mein Versuch, sie zu retten, misslang kläglich.
So stürzten wir in den Abgrund.
Und die Finsternis umarmte uns.
Kapitel 18
Der Kinderkreuzzug
Der Nyx, dachte Emily Laing benommen, ist gierig, und manchmal verschlingt er kleine Kinder mit Haut und Haaren. Sie öffnete die Augen, und da war nichts als Rabenschwärze.
»Wittgenstein?«
»Ich bin hier.«
Direkt neben Emily.
»Wo sind wir?«
»Im Abgrund.«
Emily hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie hierher gekommen war. Sie erinnerte sich an das Gefühl zu fallen. In ihren Träumen war sie oft gefallen. Aurora nie. Das Mädchen aus Fitzrovia hatte immerzu vom Fliegen geträumt.
»Wie sind wir hierher gelangt?«
»Wir sind gefallen.«
»Tolle Antwort.«
»Sie haben gefragt.«
Letzten Endes musste Emily einsehen, dass die Antwort der Wahrheit entsprach.
Wir
waren
gefallen.
Woran sich keiner von uns beiden erinnern konnte, war der Aufprall.
»Sehen Sie etwas?«
»Ja.«
Emily schnaubte ungeduldig.
»Nun lassen Sie sich doch nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen!«
Sie tastete den Boden ab und fühlte Felsgestein, das sich irgendwie anders anfühlte als in der uralten Metropole.
»Wie tief ist der Abgrund?«
»Tief.«
Jetzt war sie genervt.
»Bitte!«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung.«
Eine ehrliche Antwort.
Dann beschrieb ich dem Mädchen, was ich sah.
»Wir befinden uns in einem langen Korridor«, erklärte ich und half ihr auf die Beine.
Dinsdale, der die ganze Zeit über in meiner Manteltasche gesteckt und Kräfte gesammelt hatte, war während des Sturzes erwacht und hatte den Abgrund illuminiert. Ich erinnerte mich an die Wände, die an mir vorbeirasten und an denen zahlreiche Rattlinge emporkletterten. Da war etwas an den Wänden, kleinen Blasen ähnlich, etwas, das anscheinend lebte. Übersät waren die Wände des Abgrunds mit diesen Blasen, in deren Inneren sich etwas zu bewegen schien.
Emily Laing, das hatte ich dem Schrei des Mädchens entnommen, hatte sich irgendwo in der warmen Luft über mir befunden und war gefallen. Hinab, wohin auch immer.
»Ich kann mich nicht an den Aufprall erinnern«, sagte ich ihr. »Am Ende sind wir einfach hier gewesen.«
In diesem langen Korridor, dessen Boden hart und doch kein Gestein war. Die Wände des Rundtunnels waren tiefrot. Dunkle Äderchen verliefen in filigranen Mustern an ihnen entlang. Der Boden des Korridors war von einem feinen Nebel bedeckt, in dem unsere Stiefel versanken.
Die Luft war warm, fast schon schwül. Tropisch anmutend.
Wie ein Atem.
Emily lauschte in die Stille.
Flüsterte schließlich: »Da atmet jemand!«
»Es sind Kinder hier«, antwortete ich ihr. »Unzählige Kinder mit Spiegelscherbenaugen.«
Überall waren sie. Umgaben uns. Standen paarweise oder in Gruppen oder einzeln herum, als warteten sie auf etwas. Die Spiegelscherben, die in ihren Augenhöhlen steckten, reflektierten das Irrlicht, das im Korridor auf und ab flog. In ihren zerlumpten Kleidern standen die Kinder einfach nur da. Ausdruckslos. Wie tot. Und doch lebendig.
»Wenn die Kinder des Lichtlords Augen sind«, mutmaßte ich, »dann weiß er wohl, dass wir hier sind.«
Von einem Kreuzzug hatte er in der Krypta von St. Paul’s gesprochen. »Wie bereits in anderen Zeiten, so werden es auch jetzt die Kinder sein, die das Licht in die Welt tragen werden.«
Konkret war er nicht geworden.
»Hören Sie!«
Emily legte den Kopf schief und lauschte angestrengt in den Korridor.
Dann hörte auch ich es.
Schritte.
»Glauben Sie, dass Lord Mushroom den Sturz überlebt hat?«
»Wenn wir ihn überlebt haben, so wird ihm das Schicksal wohl ebenso gnädig gewesen sein.«
Die Schritte hielten inne.
»Es kommt von da vorne.« Emily deutete in die Richtung, die auch der Wind nahm.
So standen wir da.
Lauschend.
Abwartend.
Dann flammte mit einem Mal ein Lichtblitz auf, so grell, das er mich vor Schreck aufschreien ließ. Zu plötzlich war dies alles geschehen, als dass ich die Quelle des Blitzes hätte erkennen können. In gleißend weißes Licht war der Korridor getaucht worden. Dann war es vorbei.
»Was ist passiert?«, fragte Emily, die meinen überraschten Schrei vernommen hatte.
Ich erklärte es ihr.
»Ein Lichtblitz?«
»Greller als tausend Sonnen«, antwortete ich.
Als sich die hellen Flecken, die mir vor den Augen tanzten, verzogen hatten und
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