Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
brackiges Wasser spuckte. »Gott sei Dank, es geht dir gut. Ich dachte schon, du seist tot.«
Emily klang verzweifelt. »Ich kann dich nicht sehen.«
»Es ist finster hier unten.«
Also war mit ihrem Augenlicht alles in Ordnung.
»Wo sind wir?«
Eine Welle schwappte über ihren Kopf hinweg, sodass sie die Antwort ihrer Freundin nicht hören konnte. Sie spürte, wie die feuchte Tiefe schwer an ihren nassen Kleidern zog.
»Es ist ein Wunder, dass ich dich überhaupt gefunden habe.« Aurora, die es irgendwie geschafft hatte, in dieser unterirdischen Nacht zu ihr zu finden, hielt sich nur mit Mühe über Wasser.
»Wohin treibt uns der Fluss wohl?«
»Keine Ahnung.«
»Was ist mit den anderen?«
Eine Stromschnelle hob Emily aus dem Wasser und schleuderte sie gegen ihre Freundin. Aurora schrie kurz auf, und dann spürte Emily, wie der Körper ihrer Freundin plötzlich erschlaffte. Noch bevor Emilys Verstand erfasst hatte, dass sie vermutlich mit dem Ellenbogen gegen Auroras Kopf gestoßen war und diese durch den unverhofft heftigen Schlag das Bewusstsein verloren hatte, entglitt ihr Auroras nasser Körper und wurde von dannen gerissen.
Verzweifelt schrie Emily nach ihrer Freundin.
Antwort erhielt sie jedoch keine.
Die Fluten hatten das Mädchen mit sich gerissen.
Einfach so.
Da Emily ohnehin nicht sehen konnte, wohin sie der Strom trieb, ließ sie es einfach geschehen. Jeglicher Mut hatte sie in eben dem Moment verlassen, in dem ihre Freundin von den Fluten verschlungen worden war. Wohin sollte das alles denn noch führen? Es ergab doch gar keinen Sinn. Warum setzte sie ihr Leben aufs Spiel, um das kleine Kind zu finden, mit dem sie doch wirklich gar nichts verband? Wäre es nicht das Beste, einfach zu ertrinken? Untertauchen und ausatmen und sich gehen lassen? Wer würde sie denn schon vermissen? Niemand, gab sie sich selbst die Antwort. Niemand vermisst ein Waisenkind, und erst recht vermisst niemand ein Waisenkind mit nur einem Auge, das zudem auch noch aus dem Waisenhaus geflohen ist.
Im Grunde hatte Emily nicht einmal die Wahl.
Die Fluten trugen sie weiter. Ob sie das nun wollte oder nicht.
Emily ruderte nach Leibeskräften mit den Armen, die sie kaum mehr spürte, und versuchte so wenig wie möglich von dem brackigen Wasser zu schlucken. Sie zwang sich, gleichmäßig zu atmen. Versuchte an etwas anderes als das Ertrinken zu denken. Der Fluss wirbelte ihren Körper nach Belieben umher, tauchte ihn unter, zog ihn wieder zur Oberfläche hinauf.
Zu einem Spielball der unsichtbaren Stromschnellen wurde sie.
Machtlos. Mutlos.
Sie wollte weinen, doch kamen keine Tränen. Die Erschöpfung und die Anspannung waren einfach zu groß. Die Kälte begann ihren Körper und ihren Geist zu lähmen. Aurora Fitzrovia. War sie tatsächlich ertrunken? Was war nur geschehen in Knightsbridge?
Emily entsann sich der Vision, die sie ohne Vorwarnung getroffen hatte.
Es hatte wehgetan dieses Mal.
Als würde jemand mit einem glühenden Metalldraht durch ihr gesundes Auge stechen. Aurora hatte Deckung am Rande der Brücke hinter einem Mauervorsprung gesucht. Emily hatte sich bemüht, ihre Freundin zu erreichen, um den Pfeilen der unsichtbaren Jäger zu entkommen, als der Boden unter ihren Füßen zu wanken begann.
Mit einem Mal war Knightsbridge verschwunden gewesen.
Stattdessen hatte sie viele Kinder gesehen, die vor seltsamen Gerätschaften standen. Einige dieser Kinder, die alle keine Augen mehr hatten, mussten Steine schürfen. Es war kalt dort. Überall glitzerten Eiskristalle. Es sah wie ein Bergwerk aus, in dem Schnee gefallen war. Wölfe waren auch da. Trugen sie durch das Bergwerk. Fluchten. Gebärdeten sich unwirsch. Daneben Kreaturen mit vielen Beinen, insektengleich.
Es sind Maras Gedanken, dachte sie. Ganz klar. Nein, nicht Maras Gedanken. Was sie sah, war das, was das kleine Mädchen gerade erlebte. Es war so, daran gab es keinen Zweifel. Mara befand sich noch immer in der Gewalt der Wölfe, die sie in ein verschneites Bergwerk schafften. Und mit einem Mal verspürte Emily den unbezähmbaren Drang, dem Kind zu helfen. Sie musste zu ihr gelangen. Irgendwie.
Also war sie gelaufen.
Hatte einen Fuß vor den anderen gesetzt.
Nicht in diese Richtung
, hatte daraufhin jemand gerufen.
Aurora Fitzrovia.
Schritt für Schritt.
War gelaufen.
Nein, nicht dorthin!
Emily hatte die Augen geöffnet und war sich wieder der Wirklichkeit bewusst geworden.
Sie hatte abzubremsen versucht, doch der Schwung hatte sie
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