Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
erbarmungslos nach vorne getragen, über die Brüstung hinaus und in den Schlund. Sie hatte geschrien vor Angst und Verzweiflung und Erschrecken. War gestürzt und gefallen, hinein in diese rabenschwarze Nacht. War in eisig kaltes, tosendes Wasser eingetaucht und hatte das Bewusstsein verloren.
Jetzt war sie hier.
Hilflos und nass und kurz vor dem Ertrinken.
Aurora musste versucht haben, sie festzuhalten.
Emily malte sich aus, wie Aurora sie gerade noch am Jackenzipfel oder Ärmel zu fassen bekommen und es sie dann mit in die Tiefe gerissen hatte. Erneut schluckte sie Wasser.
Arme Aurora.
So durfte es einfach nicht enden. Sie erinnerte sich der ersten Begegnung mit dem dunkelhäutigen Mädchen.
Eines Abends im Sommer hatte sie Aurora in der Mädchentoilette im Waisenhaus getroffen, wo der Neuzugang mit den dunklen Augen schluchzend unter einem der Waschbecken gekauert hatte. Ihre Kleidung war völlig durchnässt gewesen, und mit ruckartigen und panischen Bewegungen hatte sie sich an Armen und Oberschenkeln gekratzt. Emily drehte zuallererst die rostigen Wasserhähne ab und kniete sich neben die andere. Sie hatte gewusst, dass das ›Schokoladenmädchen‹, wie die anderen Kinder sie insgeheim getauft hatten, aus einem anderen Waisenhaus nach Rotherhithe gekommen war.
»Ich bin Emily.« Sie hatte ihr die Hand gereicht.
Zuerst war Aurora ganz schweigsam gewesen. Langsam nur war ihr Atem flacher geworden.
»Aurora«, hatte sie dann gesagt. »Aurora Fitzrovia. Aus Irland. Mein Vater ist bei der Post.«
»Was ist passiert?« Instinktiv wollte Emily das andere Mädchen in den Arm nehmen.
»Es war die blonde Frau. Sie haben mich der blonden Frau mitgegeben.«
»Snowhitepink!« Augenblicklich hatte sich ein flaues Gefühl in Emilys Magengrube ausgebreitet.
»Ich musste mit ihr in die Stadt fahren. Da war ein Haus mit einem gemütlichen Zimmer und einer Treppe mit Teppichboden auf den Stufen.« Es war schwierig gewesen, ihr die Worte zu entlocken. »Ein Puppenhaus haben sie mir gezeigt, die blonde Frau und ein fein gekleideter Herr.« Heftigst gezittert und sich die Haut blutig gekratzt hatte sie. Geschluchzt. »Es hat wehgetan. Was sie gemacht haben. Es hat so verdammt wehgetan.«
»Es passiert vielen Kindern.« Emily hatte nur davon gehört.
Aurora hatte sie aus verheulten Augen angestarrt. »Warum?«
»Wir sind Waisenkinder. Niemanden kümmert, was uns zustößt.«
Beinah trotzig hatte sich Aurora die Tränen aus dem Gesicht gewischt. »Mein Daddy ist ein irischer Postbote. Er wird mich finden. Eines Tages. Er hat Kontakte, das weiß ich. Er kennt Leute, die die Adressen aller Menschen in England kennen. Das müssen sie auch. Ist immerhin die Post.« Dann hatte sie wieder zu weinen begonnen. Nur mit Mühe hatte Emily sie davon abhalten können, sich die Haut weiterhin blutig zu kratzen.
Eine ganze Weile hatten sie einfach nur so dagesessen. Unter dem Waschbecken in der Toilette.
»Bleibst du bei mir?« Aurora hatte sie angeschaut.
»Ja, tu ich.«
»Werden wir Freundinnen?«
»Wenn es dich nicht stört, dass man mich die einäugige Missgeburt nennt.«
Aurora hatte den Kopf geschüttelt. »Tut es nicht. Wenn es dich nicht stört, ein Schokoladenmädchen zur Freundin zu haben.«
Emily hatte gelächelt.
Ja, so hatte es begonnen.
Wie oft danach hatten Emily und Aurora des Nachts gemeinsam geweint. Wie oft hatten sie sich von ihren Träumen erzählt. Wie oft hatten sie sich ausgemalt, wie es sein würde, wenn man sie an Adoptiveltern vermitteln würde. Sie hatten einander in den Armen gelegen und wie geheime Verschwörerinnen das magische Wort geflüstert. Adoption. Jederzeit wissend, dass dies alles nur Träume waren. Träume jedoch, die ihnen niemand nehmen konnte. Nicht einmal der Reverend. Nicht einmal Madame Snowhitepink. Nicht einmal Mr. Meeks.
Niemand konnte das.
Emily und Aurora hatten zusammen in der Küche bei Mrs. Philbrick arbeiten dürfen. Hin und wieder hatte der Reverend die Notwendigkeit eingesehen, sie gemeinsam auf Botengänge in die Außenwelt zu schicken. Mit etwas Glück hatten sie es dann geschafft, sich von den Touristen in Westminster einige Pennys zu erbetteln und Süßigkeiten zu kaufen. In diesen Augenblicken konnten die beiden Mädchen erahnen, was es für andere Kinder bedeutete, ein Kind zu sein. Letzten Endes jedoch wussten sie beide, dass diese heile Welt nicht die ihre war und am Ende eines solchen Nachmittags das Waisenhaus auf sie wartete. Glücklich waren andere
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