Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
verlangt ihn nach Kindern. Master Lycidas suchte mich vor wenigen Monden auf und bat mich, ihm die Kinder zu besorgen. Also entsandte ich meine Wölfe. Doch steigt die Nachfrage nach Kindern stetig an, und meine Wölfe müssen mit noch anderen Aufgaben betraut werden. Darüber hinaus muss ich wohl niemanden der hier Anwesenden auf die lykanthropischen Fressgewohnheiten aufmerksam machen.« Er machte eine kurze Pause, in der nicht einmal ein Hüsteln zu hören gewesen wäre. »Bringen Sie mir die Kinder, und ich werde die Wegzölle um nicht einen Penny erhöhen. Dies ist mein Versprechen an Sie, verehrte Kaufleute. Es gibt dreiundzwanzig Gilden im Stadtgebiet. Ich trage jeder Gilde auf, mir mindestens zwei Kinder pro Woche zu bringen. Dann, und nur dann, werde ich Ihren Bitten nachkommen. Dann, und nur dann, werden die Wegzölle unverändert bleiben. Dann, und nur dann, werden Sie auch in Zukunft noch hohe Gewinne einstreichen.«
Stille breitete sich im Saal aus.
»Die Kinder, das sollten Sie alle wissen«, fügte der Lordkanzler abschließend hinzu, »müssen sehr jung sein. Säuglinge, Kleinkinder. Bringen Sie mir keine Bälger, die älter als fünf Jahre sind.«
Das Gemurmel begann.
Schwoll an.
»Entscheiden Sie sich«, forderte der Lordkanzler die Masse auf. »Jetzt!«
Die Wölfe knurrten leise und zogen grinsend die Lefzen hoch. Diejenigen, die noch ihre menschliche Gestalt hatten, sahen nicht minder bedrohlich aus. In den schmutzigen Menschengesichtern begannen zottige Haare zu sprießen. Krallen wuchsen aus den Fingern. Ohren spitzten sich zu. Münder wurden zu Schnauzen. Muskelgewebe dehnte sich.
Es war ein fauler Handel.
Ein Blick in die Augen des Elfen bestätigte mir, dass er das Gleiche dachte.
Natürlich würden die Gildehändler dem Vorschlag des Lordkanzlers zustimmen. Sie hatten gar keine andere Wahl. Täten sie es nicht, so würden mehr als fünfhundert hungrige Werwölfe in Windeseile über sie herfallen.
Wie immer man die Sache auch anging, der Lordkanzler würde seine Kinder bekommen.
Es dauerte nicht lange, und die Gilden stimmten zu.
Ein Vertreter nach dem anderen erhob die Hand und gab seine Einwilligung.
Der Pakt war beschlossen.
Für Maurice Micklewhite und mich gab es nichts mehr zu tun in der Royal Albert Hall. Die sich anschließende Diskussion über die Vergabe von Aufträgen an die Gesellschaften in Übersee war für unsere Belange von keinerlei Bedeutung. Zudem hielten wir beide es für keine gute Idee, mit Anubis persönlich zu sprechen. Es war uns klar geworden, dass wir im Lordkanzler von Kensington keinen Verbündeten hatten.
»Er lässt die Kinder also von den Wölfen stehlen«, fasste Maurice Micklewhite zusammen, als wir durch die Tunnel an die Oberfläche zurückkehrten. »Doch warum benötigt Master Lycidas all die Kinder?«
»Master Lycidas.« Ich ließ mir den Namen auf der Zunge zergehen. »Ich habe diesen Namen schon einmal gehört.« Immer wieder sprach ich leise den Namen des unbekannten Drahtziehers aus.
»Lycidas. Lycidas.«
Ich kannte ihn, da war ich mir sicher.
Nur wusste ich nicht, wo ich mit der Suche beginnen sollte.
»Jemand wird es wissen«, beruhigte mich Maurice Micklewhite.
Vorerst ließ ich es dabei bewenden.
Durch ein stillgelegtes Versorgungssystem der Elektrizitätswerke bewegten wir uns nordostwärts und erreichten nach einer halben Stunde eines der Nebengleise, wo wir den Übergang vollzogen. Der Gatekeeper grüßte uns mürrisch, und wir traten auf einen Bahnsteig hinaus.
Notting Hill Gate. Hier kreuzen sich Central, Circle und District Line.
Maurice Micklewhite wurde von den Passanten und Pendlern an diesem Morgen neugierig beäugt, was an dem schneeweißen, nunmehr an vielen Stellen zerrissenen, höchst blutdurchtränkten und auch ansonsten recht schmutzigen Mantel liegen mochte. Zudem hinkte er stark. Die blonden Locken waren verdreckt, was erst im Schein der grellen Neonröhren in aller Deutlichkeit hervortrat. Ich selbst war von nicht geringerer Schäbigkeit. Die langen, schwarzen Haare hingen mir fettig und struppig ins Gesicht. Dunkle Ringe hatten sich unter den Augen ausgebreitet. Meine Kleidung war zerrissen und schmutzig.
London ist jedoch eine wahrhaftig großartige Stadt. Kaum ein Passant kümmerte sich um uns. Zwar wurden uns seltsame und musternde Blicke zugeworfen, doch sprach uns weder jemand an noch schien unser Aufzug die Menschen in besonderem Maße zu irritieren. Verrückte gab es in London zuhauf. So tauchten
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