Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
diesem ungastlichen Ort, dachte Emily, muss sie mit der Wahrheit herausrücken?
»Ich kenne Ihre Mutter seit langer Zeit.« Lucia del Fuego wirkte nachdenklich. Nostalgisch. »Damals, als wir uns kennen lernten, war sie noch Mia Manderley. Ich wusste von ihrem Verhältnis zu Richard Swiveller und von dem Kind, das verleugnet und versteckt werden sollte.«
»Warum haben Sie sie nicht überzeugt, ihrem Kind beizustehen?« Aurora war wütend.
»Es waren schwierige Zeiten«, antwortete Lucia del Fuego. »Und Mia Manderley hatte dem Plan der Ratten zugestimmt. Sie heiratete Lord Mushroom, und so vereinigten sich die mächtigen Häuser. Alles um des lieben Friedens willen. Doch war es keine glückliche Ehe, die beide führten. Verzweifelt versuchten die frisch Vermählten, einen Erben zu zeugen. Ohne Erfolg. Als sich dann nach Jahren des Bemühens und der ärztlichen Besuche drüben in Blackheath Nachwuchs einstellte, mussten beide enttäuscht feststellen, dass es sich um ein Mädchen handelte.«
»Mara.«
»Lord Mushroom machte von Anfang an seine Frau für dieses Unglück, wie er es zu nennen pflegte, verantwortlich. Ein männlicher Erbe wäre beiden Häusern genehmer gewesen.«
Spontan fiel Emily dazu ein: »Es gibt keine Zufälle.«
»Wie meinen Sie das?«
»Fragen Sie nicht!«
Lucia del Fuego wirkte überrascht.
Und Emily fragte sich, ob sie die Anspielung verstanden hatte.
»Es gibt, gelinde gesagt, Spannungen in der Ehe, die sich während der letzten beiden Jahre seit dem Verschwinden der kleinen Mara verstärkt haben.«
»Sie meinen«, konnte Emily die Frage nicht mehr zurückhalten, »es besteht noch Hoffnung, dass sie mich aufnimmt?« Wie sie es hasste, wenn sich diese Erwartungshaltung in ihr aufbaute. Waisenkinder wissen, wie trügerisch Hoffnung sein kann. Meist bleibt nur bittere Enttäuschung zurück. Weswegen sich die klügeren Kinder das Hoffen verkneifen.
Lucia del Fuego ergriff Emilys Hand. »Ich habe mit ihr darüber gesprochen.«
Tatsächlich? »Und? Was hat sie gesagt?« Emily versuchte möglichst teilnahmslos zu klingen.
Aurora stand schweigend und mit ernster Miene neben Emily.
»Sie sträubt sich noch dagegen«, antwortete die Jägerin. »Doch denke ich, dass sie letzten Endes auf ihre Beraterin hören wird.« Sie lächelte gütig. »Mia Manderley ist eine einsame Frau, die sich insgeheim nach ihren beiden Töchtern sehnt. Man munkelt, dass die Ehe mit Martin Mushroom nur auf den Pergamenten besteht.«
»Wie gut kennen Sie meine Mutter?«
Es war seltsam, es so zu formulieren. Ihre Mutter. Etwas tief drinnen in Emily erwachte beim Klang dieses Wortes zum Leben.
»In welchen Angelegenheiten beraten Sie sie denn?« Aurora schien die Wendung der Ereignisse gar nicht zu gefallen.
»Ich kenne Mia Manderley seit langer Zeit«, erklärte Lucia del Fuego. »Während der Whitechapel-Aufstände, nachdem Jack the Ripper sein Unwesen getrieben hatte, wurde ich Manderley Manor zugewiesen. Ich handelte im Auftrag der Black Friars. Meine Aufgabe war es, die Erbin des Hauses zu schützen. Wir kamen während dieser Zeit nicht umhin, über manches zu sprechen, und begannen, einander zu vertrauen.«
»Sie waren also ihre Leibwächterin.«
»Sie sagen es!«
»Und Sie meinen, ich könnte meine Mutter vielleicht doch kennen lernen?«
»Es ist nicht so einfach, wie es sich anhört.« Lucia del Fuego blickte wachsam in beide Richtungen des Tunnels. »Wenn sich Mia Manderley von ihrem Mann trennt, dann wird sie jeden Halt brauchen, der sich ihr bietet. Dann wird sie ihre beiden Töchter liebend gerne in die Arme schließen.« Der Jägerin Augen wurden sehr ernst, und die dicken Brillengläser verstärkten den kalten Blick noch. »Doch wenn die Beziehung der beiden fortbesteht«, meinte sie und fügte nach einem unheilvollen Moment des Schweigens hinzu, »dann wird sie nur ihr eheliches Kind akzeptieren.«
Verwirrt und aufgeregt versuchte Emily sich ein Bild von der Situation zu machen.
Durfte sie sich wünschen, dass die Ehe ihrer Mutter zerbrach, nur um des eigenen Glückes willen? Durfte sie ihr eigenes Wohl über das der uralten Metropole stellen? Andererseits, was bedeutete die uralte Metropole schon für sie? Warum kümmerte sie sich überhaupt um die Belange dieser Welt, die ihr doch gar nichts sagte, von der sie bis vor wenigen Tagen nicht einmal gewusst hatte? So lange hatte sie sich danach gesehnt, eine Mutter zu finden; und jetzt war sie diesem Ziel so nahe, wie sie es sich niemals
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