Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
erträumt hatte. Nicht nur
irgendeine
Mutter, sondern
ihre
Mutter; ihre richtige, leibhaftige Mutter, die womöglich so aussah wie sie selbst und redete wie sie selbst und fühlte wie sie selbst.
»Was soll ich denn jetzt tun?« Eigentlich hatte sie die Frage an niemanden gerichtet. Nur laut gedacht.
Die Jägerin antwortete trotzdem. »Mir folgen. Wir werden Ihre Halbschwester Mara befreien und nach Manderley Manor bringen, wo Mia derzeit weilt. Was dann geschieht, bleibt abzuwarten.«
»Wann werden wir Wittgenstein wiedersehen?«, erkundigte sich Aurora.
»Bald.«
»Wie bald?«
Emily erkannte das Misstrauen und den unterdrückten Zorn in den Augen ihrer Freundin. Sie kannte diesen Blick. Aus dem Waisenhaus. Wenn ein Kind eine Familie gefunden hatte und mit seinen neuen Eltern die Straße vor dem großen Haus überquerte, während die vielen enttäuschten Kinder sich die Nasen an den Fenstern platt drückten und sich traurig ausmalten, wie es wohl wäre, wenn statt des Glückskindes sie selbst dort unten entlanggingen, weg vom Waisenhaus, weg von all dem Elend; es war dieser Blick eines jeden zurückgelassenen Kindes, der das Gesicht Auroras in diesem Augenblick verdunkelte.
»Wie ich Ihnen bereits sagte, steht es um den armen Wittgenstein nicht allzu gut.«
»Das Bein«, mutmaßte Aurora.
»Sie sagen es. Sobald dies hier überstanden ist, werden wir ihm einen Besuch abstatten.«
Emily betrachtete die schmutzigen Kinder mit den Spiegelscherbenaugen. Sie bemerkte die teilweise blutig geschürften Finger, die aus den kaputten, löchrigen Handschuhen herauslugten. Mechanisch hoben sie die schweren Steine und ließen sie in die Loren plumpsen. Teilnahmslos brachen sie das Geröll aus dem Felsgestein und schlurften langsam durch die eisbedeckten Gänge.
»Wo finden wir meine Schwester?« Erschrocken stellte Emily fest, dass sie gerade
meine Schwester
gesagt hatte und nicht
meine Halbschwester
. Und das bedeutete – was?
»Folgen Sie mir«, forderte Lucia del Fuego sie auf.
Dinsdale, der die ganze Zeit über bewegungslos in einer der Laternen gekauert hatte, surrte nun auf die beiden Mädchen zu, umkreiste ihre Köpfe wie ein kleiner Blitz und blieb dann in der Luft vor ihren Gesichtern stehen.
»Leuchte uns den Weg!«, flüsterte Emily.
Dinsdale glomm kurz auf.
Dann setzte sich die kleine Gruppe in Bewegung.
»Woher kennen Sie sich hier unten eigentlich so gut aus?« Noch immer war der Gedanke, dass dies die Hölle sein sollte, befremdlich für Emily. Alles sah wie in einem Märchen aus. Gerade so, als stünde hinter der nächsten Ecke die Eiskönigin. Insgesamt entsprach dies hier nicht im Geringsten dem Bild, das man sich als Kind und eventuell auch als Erwachsener von der Hölle zu machen pflegte.
»Die Black Friars haben das Labyrinth während der letzten Jahrhunderte kartographiert. Natürlich muss man berücksichtigen, dass die Hölle immerfort wächst. Jahr für Jahr entstehen neue Gänge, werden zusätzliche Stollen tief in die Erde getrieben. Es ist ein Netzwerk an unterirdischen Korridoren, das, wenn man es genau nimmt, den gesamten Erdball umspannt. Hier und da gibt es Verbindungen zur Oberfläche. Ausgänge, Eingänge, Schlupflöcher, Fallen für arglose Wanderer.«
»Aber was ist mit dem Feuer?« Emily entsann sich der Bilder, die den Predigten des Reverends entsprungen waren.
»Sie meinen ewige Qualen? Lodernde Flammen und kleine Teufelchen, die böse Sünder mit skurril anmutendem, mittelalterlichem Werkzeug martern?« Die Jägerin schien belustigt. »Die Hölle, meine Damen, ist ein höchst realer Ort. Die Black Friars besitzen natürlich nicht von allen Regionen Karten. Die tieferen Schichten sind selbst ihnen unbekannt. Niemandem ist es bisher gelungen, dortin vorzudringen. Jedenfalls ist keiner von denen, die sich auf den Weg gemacht haben, jemals zurückgekehrt.«
»Sie erwähnten Kreaturen, die sich hier unten tummeln«, merkte Aurora vorsichtig an.
»Man sagt, dass der Limbus seltsame Kreaturen gebiert.« Sie flüsterte und schaute sich um.
Etwas beunruhigte Emily an diesem Wort. Limbus. »Was ist das?«
»Der Limbus ist ein Teil der tiefen, unerforschten Regionen. Im Limbus befinden sich, glaubt man der Sage und dem Volksglauben, die ungetauft gestorbenen Kinder. Die Kinder wachsen dort unten weiter, reifen in ewiger Dunkelheit zu etwas heran, dem man keinen Namen geben will. Bei den Black Friars vermutete man, dass die Seelenlosen die Tunnel bis zum Limbus hinabtreiben
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