Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
beiden Mädchen erschaudern. Wenngleich sie in Lumpen gekleidet waren, so konnte man doch die Kleidungsstile mehrerer Jahrhunderte erkennen. Dies waren ohne Zweifel Kinder, die zu ganz verschiedenen Zeiten in London gelebt hatten und im Laufe der Jahrhunderte entführt worden waren. Manche dieser Kinder, so mutmaßte Emily, mussten seit mehr als tausend Jahren in diesen Katakomben ihr Dasein fristen.
Wie war das möglich? Wieso konnten sie so alt werden? War dies tatsächlich die Hölle?
Emily wusste nicht mehr, was sie glauben sollte.
Das alte Misstrauen gegenüber der Welt loderte wieder in ihr auf.
»Ist das Ihr Ernst?«
Es war wie im Waisenhaus, man durfte niemandem vertrauen.
Lucia del Fuego verstand. »Was ich Ihnen gesagt habe«, gab sie zur Antwort, »war nicht im übertragenen Sinne gemeint. Dies hier ist die Hölle. Oder, um genau zu sein, eine Vorhölle.« Sie kniete sich neben Emily, sodass ihrer beider Augen auf gleicher Höhe waren. »Es gibt neun Kreise der Hölle, und jeder dieser Kreise sieht anders aus. Dies ist der äußere Kreis. Der neunte Kreis der Hölle ist ein Eispalast.«
Die beiden Mädchen warfen sich verunsicherte Blicke zu.
»Sie meinen«, begann Aurora zaghaft, »dass die Hölle keine Erfindung ist? Dass es sie nicht nur in Geschichten gibt?«
»Für meine Verhältnisse wirkt dies alles sehr echt«, gab Lucia del Fuego zur Antwort. »Außerdem beliebe ich bei manchen Dingen nicht zu scherzen. Die Lage ist ernst, und ich bitte Sie, mir zu vertrauen.«
»Warum haben Sie uns hierher geführt?« Emily war argwöhnischer denn je.
»Um Mara Mushroom zu finden.«
Emily dachte an das, was sie gesehen hatte. Im Cheshire Cheese. Es war kein Blick in die Zukunft gewesen. Nein, sie hatte gesehen, was in demjenigen Moment passierte. Was Mara in jenem Augenblick widerfahren war. Mara war hier unten. Sie hatte all das hier gesehen, und deswegen hatte auch Emily es sehen können. Sie hatte durch ihrer Halbschwester Augen gesehen.
»Mara ist hier unten?«
»Die Wölfe haben sie hierher gebracht. Da bin ich mir sicher.«
»Aber wie werden wir sie finden?«
Lucia del Fuego lächelte. »Mit Glück.«
Emily sah sich um an diesem seltsamen Ort.
»Es gibt nicht viele Eingänge, die in die Tiefen der Hölle hinabführen«, erklärte Lucia del Fuego geduldig. »Der älteste Eingang befindet sich in Rom, in den Katakomben des Vatikans; übrigens der Weg, den Dante und Vergil damals eingeschlagen haben.«
Emily und Aurora hatten ehrlich gesagt nicht die geringste Ahnung, wen sie damit meinte.
»Weniger bekannt sind die anderen Eingänge. Einer davon ist dieser hier.« Wachsam schaute sich die Jägerin um, lauschte in die endlose Weite des Stollens hinein. »Wir müssen vorsichtig sein«, sagte sie. »Die Seelenlosen nehmen uns nicht zur Kenntnis, doch gibt es andere Kreaturen hier unten.«
Emily fand die Bezeichnung
die Seelenlosen
unpassend für die armen Gestalten, die einmal ganz normale Kinder gewesen waren; vor langer Zeit, in
ihrer
Zeit; ganz so wie Emily und Aurora.
»Was ist mit den Kindern passiert?« Aurora sah, wie sich ihr Bild in den Spiegelscherbenaugen brach.
»Die Black Friars sagten mir, dass Master Lycidas in regelmäßigen Abständen ein Elixier benötigt«, erklärte sie den Kindern, »das er aus den Seelen der Kinder gewinnt. Ein Wyrm destilliert die Unschuld aus den Leibern und sondert ein Sekret ab, das die konzentrierte Reinheit der Kinder enthält.«
Emily zog die Stirn kraus. »Das dieser Master Lycidas dann trinkt!?«
»So etwas Ähnliches.«
Emily rieb die Hände aneinander. Es war bitterkalt in dem Stollen.
»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Aurora.
Die Kinder mit den Spiegelscherbenaugen gingen ihrer Arbeit nach, ohne die Fremden auch nur zu beachten. Die toten Augen erinnerten Emily an ihr eigenes Glasauge, und sie fragte sich, ob andere Menschen ihr künstliches Auge auch als derart kalt und leblos wahrnahmen. Die Kinder mit den Spiegelscherbenaugen schienen tatsächlich keine Seele zu besitzen. Ihr Gesichtsausdruck war einfach nur … leer.
Einige Biegungen des Stollens hatten sie hinter sich gelassen, als die Jägerin plötzlich innehielt. »Ich muss Ihnen ein Geständnis machen.« Lucia del Fuego sah Emily dabei direkt in die Augen. »Bevor wir weitergehen, sollten Sie davon erfahren.« Sie sah sich erneut um, bevor sie fortfuhr: »Ich habe Ihnen beiden nicht die ganze Wahrheit gesagt.«
Die beiden Mädchen blickten einander an.
Ausgerechnet an
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